Fachgruppensitzung Soziologie 2000

Auf Initiative der Fachgruppe Wirtschaft begann die Sitzung der Fachgruppe Soziologie mit einer Gemeinschaftsveranstaltung beider Fachgruppen, die dem Soziologen und Ökonomen Christian Etzrodt Gelegenheit zum Vortrag zu Möglichkeiten und Grenzen der vergleichenden Kulturanalyse auf der Basis der Rational Choice Theorie gab.

Etzrodt geht in Anschluß an die soziologische Tradition davon aus, daß Kultur nicht nur die Wahrnehmung von Kontexten bestimmt, sondern auch das Handeln prägt, vor allem in Hinblick auf den – aus der Sicht der Rational Choice Theorie – grundlegenden gesellschaftlichen Widerspruch von kollektivem und individuellen Nutzen. Anders als auf der Ebene der Symbole (und ihrer unerschöpflichen Konnotationsfunktion) gibt es auf der Handlungsebene ein nicht-beliebiges und begrenztes Repertoire von Strukturen, die es erlauben, den Widerspruch zwischen kollektivem und individuellen Nutzen aufzulösen durch ‚Normen‘, ‚Moral‘, ‚Altruismus‘, ‚Institutionen‘ und ‚Markt‘. Diese Strukturen lassen sich zu drei idealtypischen Kulturkonfigurationen verbinden: Während sich der traditionelle Typ 1 auf ‚Institutionen‘ als habituelle Sinnstrukturen stützt, rekurriert der modern-individualistische Typ 2 auf ‚Märkte‘ und ‚Moral‘ und der modern-kollektivistische Typ 3 auf ‚Altruismus‘ und ‚Normen‘.

Das in der Rational Choice Theorie so genannte Gefangenendilemma-Spiel macht den Widerspruch zwischen kollektivem und individuellen Nutzen zum Thema einer Versuchsanordnung, die quantitativ-experimentell zur Bestimmung von Kulturtypen eingesetzt werden kann: Lösen Japaner Gefangenendilemma-Spiele ceteris paribus anders als Deutsche ? Lässt sich die Annahme, daß Japan dem modern-kollektivistischen Kulturtyp 3 entspricht, experimentell überprüfen und bestätigen ?

Die veranschlagte einstündige Vortrags-und Diskussionszeit erwies sich leider als viel zu knapp, um die gehaltvollen und für manche Teilnehmer/innen provokanten Ideen des Referenten zur quantitativ-experimentellen Bestimmung von Kulturtypen auf der Basis der Rational Choice Theorie angemessen diskutieren zu können. Die Begegnung mit den in den Kürze der Zeit kaum zu vermittelnden konzeptionellen und methodischen Überlegungen des Autors zum Kulturvergleich (u.a.durch experimentellen Einsatz des Gefangenendilemma-Spiels), mit denen er vermutlich für viele Anwesende aus dem Umkreis der Soziologie Neuland betrat, dürfte aber trotz aller spürbaren Irritationen über Begriffe und Hypothesen und trotz der zum Teil nachdrücklich geäußerten Zweifel an Sinn und Durchführbarkeit des geplanten Forschungsprojekts Interesse für Fragestellungen aus dem schwierigen und interessanten Grenzgebiet von Soziologie und Ökonomie geweckt haben.

Fazit: Gemeinschaftsveranstaltungen der Fachgruppen Soziologie und Ökonomie sind wünschenswert, auch wenn nicht von Beginn an für eine gemeinsame ‚Sprache‘ garantiert werden kann, die Mißverständnisse ausschließt und kritische Nachfragen wechselseitig kommunizierbar macht.

Im separaten Teil der Fachgruppensitzung stellte der Japanologe und Soziologe Manuel Metzler Ideen zu einem Forschungsprojekt zur Arbeitslosigkeit in Japan aus soziologischer Sicht zur Diskussion:

Das geplante Projekt nimmt die nun auch in Japan deutlich gestiegene Arbeitslosigkeit zum Anlaß, um die bislang in verschiedensten Forschungen als hoch eingeschätzte Integrationsfähigkeit der japanischen Gesellschaft zu überprüfen. Seit etwa einem Jahrzehnt destabilisiert die Arbeitslosigkeit das Beschäftigungssystem, das hier als Subsystem des sozialen Gefüges insgesamt betrachtet wird. Ausgehend von der Annahme, daß es der japanischen Gesellschaft bislang gelungen ist, potentielle Randgruppen zumindest oberflächlich zu integrieren, so daß das Bild der ‚Mittelstandsgesellschaft‘ gewahrt werden konnte, soll überprüft werden, ob und wie in Japan versucht wird, die neue ‚Randgruppe‘ der Arbeitslosen in das Beschäftigungssystem zu reintegrieren.

Besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind Absolventen von Ober-und Hochschulen sowie ältere blue-collar-Arbeitnehmer.Obschon zahlenmäßig kleiner, erregt auch die Gruppe der entlassenen white-collar-Arbeitnehmer die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, weil ihre Entlassung eine offene Absage an das bisherige ‚japanische‘ Management bedeutet. Für diese Gruppe sollen die gegenwärtig entstehenden Mechanismen zur Reintegration beleuchtet werden. Neben den Maßnahmen der Regierung und der Unternehmen sollen dabei die informellen, ‚weichen‘ Mechanismen der Reintegration besondere Beachtung finden: gemeint ist das Handeln sozialer Akteure, das über deren rechtlich oder politisch fixierten Auftrag hinausgeht. Ein Beispiel wäre die Aktivierung quasi-nachbarschaftlicher Kontakte durch das Arbeitsamt oder die Vernetzung von Unternehmen und Organisationen, die sich mit Sozialarbeit befassen, zum ’sanften‘ Abbau und zur Reintegration älterer Beschäftigter. Zentral sind bislang Fragen zum Maßnahmen-Katalog Arbeitslosigkeitsbewältigung: Welche (offiziellen und/oder informellen Maßnahmen werden getroffen, um Menschen wieder Arbeit zu besorgen (reaktiv) ? Was wird getan, um die Gefahr von Arbeitslosigkeit von vornherein zu verringern (proaktiv)?

Die weitgespannten Fragen des geplanten Projekts wurden in Hinblick auf Abgrenzung und Machbarkeit ausgiebig diskutiert. Von einigen Teilnehmer/innen wurde die zusätzliche oder alternative Einbeziehung folgender Problemkomplexe vorgeschlagen: Gender-Bezug, discouraged workers, unfreiwillig Unterbeschäftigte, Bewertung der offiziellen und/oder informellen Maßnahmen in Hinblick auf Notwendigkeit und Wirksamkeit aus der Sicht der Verantwortlichen und der Betroffenen. Sollsich das Projekt auf Arbeitsvermittlung durch nicht-kommerziell orientierte Akteure in sogenannte Normal-Arbeitsverhältnisse konzentrieren und kommerzielle Vermittlung sowie Plazierung in subventionierte Billigarbeit (community work) unberücksichtigt lassen?

Der geplante Vortrag von Anne Metzler zur Resozialisierung in Japan am Beispiel der Jugendbesserungsanstalten wurde aus organisatorischen Gründen in das Plenum der VSJF-Jahrestagung verlegt. Anne Metzler bot dort auf der Basis ihrer laufenden Dissertation einen empirisch fundierten Einblick in japanische Jugend-Resozialisierungskonzepte und -aktivitäten und rückte sie in eine höchst aufschlußreiche vergleichende Perspektive zum deutschen Jugendstrafrecht und -vollzug.

Abschließend diskutierte die Fachgruppe Soziologie über Themenvorschläge für Plenumvorträge auf der nächsten VSJF-Jahrtestagung ‚Medien‘ 2001/Berlin und kam überein, daß Karen Shire/Ilse Lenz und Wolfram Manzenreiter soziologische Perspektiven des Generalthemas ‚Medien‘ in zwei Plenumsvorträgen aufgreifen werden.

Inbezug auf ihre Weiterarbeit kam die Fachgruppe überein, verstärkt Nachwuchskräften ein Diskussionsforum zu bieten. Anwesende (insbes.Hochschullehrer/innen) wurden in diesem Sinne um Informations-und Überzeugungsarbeit gebeten. Die Japanologin und Soziologin Anne Sey (A.Sey@bw.kun.nl) hat sich bereit erklärt, ihre an der University of Nijmegen/Nijmegen Business School eingereichte Dissertation zur Gruppenarbeit in Japan auf der nächsten Fachgruppensitzung Soziologie (2001) zur Diskussion zur stellen.

Im Anschluß an die diesjährige Fachgruppensitzung Soziologie ergab eine Anfrage bei Prof.Dr.Ulrich Teichler, der zu den Koordinatoren der Fachgruppe Soziologie gehört und dem die Fachgruppe ihre Wiederbelebung mitverdankt, daß er seinen Platz in der Koordinationsgruppe, den er in den letzten beiden Sitzungen aus Termingründen nicht wahrnehmen konnte, Prof. Karen Shire Ph.D. zur Verfügung stellt. Die Soziologin und Japanwissenschaftlerin Karen Shire arbeitet an der Universität Duisburg (Fachbereich 1 Soziologie/Institut für Ostasienwissenschaften) vorwiegend komparativ zur Sozialstrukturanalyse unter besonderer Berücksichtigung Japans.