Fachgruppensitzung Stadt- und Regionalforschung 2008

Das Thema der Jahrestagung 2008 „Demographic Change in Japan and the EU – Comparative Perspectives“ reiht sich hervorragend in die aktuelle Forschungsarena der Fachgruppe Stadt- und Regionalforschung ein, deren Vertreter und Interessenten sich seit Jahren mit raumrelevanten Themen der Alterung und Schrumpfung Japans im internationalen Vergleich beschäftigen. Von den zwei angekündigten Vorträgen von Winfried Flüchter und Thomas Feldhoff musste letzterer wegen Krankheit des Referenten leider ausfallen.

Winfried Flüchter: Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien: Herausforderungen des demographischen Wandels im Zeichen des „Gänseflug-Modells“? Japan als Trendsetter neuer urbaner Entwicklungen?

Das von dem japanischen Nationalökonomen AKAMATSU Kaname bereits in den 1930er Jahren konzipierte „Gänseflug-Modell der industriellen Entwicklung“ (sangyō hatten no gankō keitairon) wurde seit den späten 1980er Jahren im Zuge der forcierten Globalisierung der japanischen Unternehmen ein vieldiskutierter Ansatz zur Erklärung wirtschaftlicher Aufholprozesse der Länder Ost- und Südostasiens. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung vollzog sich in den Ländern Ost- und Südostasiens ein markanter demographischer Wandel in Richtung Alterung und Rückgang der Bevölkerung.

Die „Leitgans“ Japan ist relativ (vor allem im Vergleich zu China) müde geworden. Dies steht ihr nicht nur ökonomisch, sondern auch ornithologisch zu. Das Gänseflug-Modell lässt in seiner graphischen Gestaltung die Realität außer Acht. Zugvögel haben in Wirklichkeit keine „Leitgans“, sondern wechseln sich an der Spitze einer energiesparenden V-Formation regelmäßig ab, um sich zu erholen. Wird in Zukunft China Japan an der Spitze ablösen? Werden zwei Leitgänse die Richtung bestimmen? Gibt es in der außenwirtschaftsorientierten Hierarchie Ostasiens überhaupt noch eine Dominanz? Spricht man angesichts der starken ökonomischen Prägung des Subkontinents durch Auslandsdirektinvestitionen aus diversen Ländern (längst nicht nur Japans) nicht besser von seiner „Hybridisierung“ (Katzenstein und Shiraishi 2006)?

Kann Japan in Anlehnung an das legendäre Gänseflug-Modell als „Leitgans“ auch bezüglich demographischer Aufholprozesse angesehen werden? Diese Frage lässt sich noch – allerdings nicht langfristig – mit einem „Ja“ beantworten. In keinem Land nicht nur Ost- und Südostasiens, sondern weltweit ist die Lebenserwartung bei der Geburt so hoch wie in Japan. Ähnlich ist die Einstufung im Hinblick auch auf die Altersstruktur. In Bezug auf das Bevölkerungswachstum ist die Bilanz Japans als einziges Land der Großregion bereits negativ (seit 2005). Alles in allem geht der zunehmende Wohlstand der einzelnen Staaten Ost- und Südostasiens mit einem Rückgang ihrer Bevölkerung einher. Entscheidend für die langfristige demographische Entwicklung eines Landes ist die Totale Fruchtbarkeitsrate (TFR). Die Statistiken und Prognosen der UN zur TFR bringen überraschende Aufschlüsse. Die „Leitgans“ Japan auf Platz 184 unter den 195 aufgeführten Staaten der Erde wird in ihrer geringen Reproduktion von den „Kleinen Tigern“ (Südkorea, Taiwan, Singapur, Hongkong) bereits schon heute übertroffen, allerdings nur knapp – mit demographischen Folgen, die freilich erst langfristig zu spüren sind.

Cum grano salis bestätigt sich das demographisch-ökonomische Paradoxon: die umgekehrte Korrelation zwischen Wohlstand und Fruchtbarkeit. Die traditionelle, von Malthus beeinflusste Vorstellung, mehr Wohlstand führe automatisch zu mehr Kinderreichtum, wird auf den Kopf gestellt, erscheint paradox. Dagegen steht der schon lange zu beobachtende Trend, dass in Ländern mit höherem Bruttosozialprodukt pro Kopf immer weniger Kinder geboren werden, obwohl ihre immer reicher werdende Bevölkerung sich diese um so mehr leisten könnte. Die Gründe für diese Reaktion sind mannigfaltig: Zunehmende Lebenserwartung, abnehmende Kindersterblichkeit, höhere Bildung, längere Ausbildung und spätere Elternschaft, größere Unabhängigkeit und berufliche Selbständigkeit der Frau, Urbanisierung und Ansprüche, deren Kosten im Hinblick auf den Nachwuchs oft als (vermeintlich) hoch empfunden werden (für Bildung, Kleidung, Essen, Geselligkeit): Phänomene, die auf wachsenden Wohlstand zurückgehen und dem Modell des demographischen Übergangs entsprechen, also der Annahme, dass der Rückgang der TFR mit dem Grad der sozioökonomischen Entwicklung parallel läuft.

Ist Japan auch Trendsetter für schrumpfende Städte und Reurbanisierung? Die Dynamik der Urbanisierung in Japan kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass demographisch schrumpfende und alternde Städte vor allem in diesem Land ein zentrales, weltweit Aufmerksamkeit erheischendes Problem sind. Während einerseits die Metropolregionen, Großregionszentren und bestimmte Regionalstädte noch wachsen, schrumpft andererseits die Bevölkerung der Städte außerhalb dieser Vorzugsgebiete dramatisch. Deindustrialisierung, Abwanderung, niedrige Fruchtbarkeit und extreme Überalterung nehmen in bestimmten, vor allem peripheren Räumen Japans Szenarien vorweg, die langfristig weiten Teilen des Landes außerhalb der Metropolen und Großregionszentren drohen. In diesem Prozess stehen Japans Metropolregionen im Spannugsfeld zwischen Reurbanisierung und Schrumpfung. Die eindrucksvolle Zunahme der Bevölkerung im Kern der Metropolen zeigt neue Tendenzen der Metropolentwicklung in Form einer Reurbanisierung, die sich in Tokyo bereits Ende der 1990er Jahre anbahnte und in ihrer derzeitigen Dimension weltweit neue Standards setzt.

Die goldenen Jahrzehnte von Wirtschaftsdynamik und Bevölkerungszuwachs sind längst vorbei. In Schrumpfungsgebieten müsste der ‚Stadtumbau’ der Zukunft sinnvollerweise zum ‚Stadtrückbau’ werden. ‚Schrumpfung’ könnte der auf engem Raum siedelnden Wohlstandsgesellschaft Japans mehr Lebensqualität bescheren, z.B. Entlastung des Wohnungsmarktes, erhöhte städtische Lebens- und Wohnqualität durch neu entstehende Freiflächen, ökologische Potenziale zur Verbesserung der Umweltqualität. So gesehen bedeutet ‚Schrumpfung’ nicht nur Risiko, sondern auch Chance. Um diese voll auszuschöpfen ist ein Paradigmenwechsel in Planung und Entwicklung von ‚Wachstum’ zu ‚Schrumpfung’ dringend nötig.

Literatur:

Flüchter, Winfried (2008): Wachstum und Schrumpfung in Ost- und Südostasien: Herausforderungen des demographischen Wandels im Zeichen des „Gänseflug-Modells“? Japan als Trendsetter neuer urbaner Entwicklungen? In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 7/8, S. 485-496.

Thomas Feldhoff: Altenwanderungen und Seniorenwohnen als Ausdruck demographischer Segregation in Japan: Allgemeine Trends und das Beispiel der Stadt Date (Hokkaidō)

Demographische Segregationsprozesse als Folge des demographischen Wandels in Japan sind ein gesellschaftlich-politisch hoch relevantes und noch wenig erforschtes Thema, das auch im Vergleich mit den USA oder Deutschland vielfältige Anknüpfungspunkte für den internationalen und interdisziplinären Dialog bietet. Die erwartete rapide Zunahme des Anteils alter Menschen lässt eine Reorganisation der Bevölkerungsverteilung und der Flächennutzung im Raum erwarten. Daraus ergeben sich folgende Fragestellungen, denen im Rahmen des Beitrages nachgegangen werden soll: Welche raumzeitlichen Muster lassen Altenwanderungen in Japan erkennen? Welches sind die bevorzugten Wohnstandorte und Wohnformen der Senioren? Kann die Zuwanderung älterer Menschen einen Beitrag zu einer Stabilisierung oder gar Revitalisierung von demographischen Problemregionen leisten? In diesem Zusammenhang wird das Beispiel der nordostjapanischen Stadt Date (Präfektur Hokkaidō) vorgestellt und problematisiert, einer Stadt, die in Übereinstimmung mit präfekturalen Zielsetzungen eine aktive Alten-Zuwanderungspolitik betreibt. Nach vorläufigen Ergebnissen einer mit Unterstützung der Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland (DGIA) durchgeführten Studie prägen insbesondere drei Trends die Mobilität älterer Menschen in Japan:

1. Inter- und intraregionale Wanderungsgewinne der Metropolräume, insbesondere der Hauptstadt Tokyo: Hervorragende Infrastrukturausstattung, insbesondere medizinische Versorgung, öffentlicher Verkehr, Kultur und Freizeit sind die wichtigsten Standortfaktoren; Altenwanderungen sind zugleich selektiv nach Sozialstatus: finanzkräftige, rüstige „Alte“ sind besonders mobil und ziehen zu. Das hat nicht nur demographische, sondern auch soziale Segregationsprozesse zur Folge. Eine wichtige Voraussetzung für diesen Trend ist, dass neues Wohnangebot im Zuge von Reurbanisierungsprozessen entstanden ist.

2. Inter- und intraregionale Wanderungsgewinne einzelner, aus der Sicht Älterer attraktiver Standorte in nichtmetropolitanen Räumen: Landschaftlich reizvolle Umgebung und klimatische Vorzüge sind wichtige Standortfaktoren, die Bedeutung medizinischer Versorgung (u. a. Allgemeines Krankenhaus!) und offensive Anwerbestrategien lokaler Gebietskörperschaften (z. B. Date/Präf. Hokkaidô, Okinoshima/Präf. Shimane, Präf. Fukushima, Hinode/Präf. Tokyo), die auf Rück- bzw. Zuwanderer hoffen (U- Turn, I-Turn, J-Turn), kommen als weitere Erfolgsfaktoren hinzu.

3. Großmaßstäbige Seniorensiedlungen à la „Sun City“ in eher peripher Lage (eher ausnahmehaft!), Beispiele Okinawa (Kanucha Community), Fukuoka (Minaginomori, inkl. Onsen), Resort City Atami (Life Care Nakagin). Diese sind z. T. ein Erbe der „Resort“-Euphorie der Bubble-Zeit, das nun einer neuen Nutzung zugeführt wird. Die durchaus periphere Lage wird durch eine gute Erreichbarkeit wettgemacht.
Die empirische Analyse des Fallbeispiels Date (Präfektur Hokkaidô) lässt folgende vorläufige Rückschlüsse im Sinne von „Lerneffekten“ bzw. „Best Practice“-Lösungen zu:
1. Alterung der Gesellschaft wird nicht einseitig als Belastung, sondern auch als Chance für Entwicklung verstanden
2. Zukünftige Entwicklung verstanden als Gemeinschaftsaufgabe von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren
3. Lokalspezifische Problemanalyse unter Hinzuziehung externen wissenschaftlichen Expertenrates
4. Erarbeitung von Gemeinschaft stiftenden Leitbildern und problemangepassten Entwicklungsstrategien
5. Vielfältige Gemeinschaftsaktivitäten fördern die Kontaktfreude und ein generationenübergreifendes Miteinander

Im Übrigen lohnt sich eine aktive Stadtpolitik auch unmittelbar finanziell: Mehr Einwohner bedeuten für die in regem Finanzwettbewerb stehenden Kommunen mehr Zuteilungen im Rahmen der Finanzausgleichs über die regionale Zuteilungssteuer.