Jahrestagung 1999

Reform in Japan

Die 12. Jahrestagung der VSJF fand vom 10. bis 12. Dezember 1999 in der Tagungsstätte der Konrad-Adenauer-Stiftung in Wesseling bei Köln statt.

Einführungsvorträge

Franz Waldenberger (Universität München) hielt im Tausch mit Bernd Martin den ersten Vortrag. Allerdings erweiterte er sein Thema von den Reformzwängen und -ansätzen im Finanzsektor zu der sehr viel allgemeineren Fragestellung, inwieweit denn Japan überhaupt Reformen brauche oder ob nicht die gegenwärtigen Probleme, Rezession, Arbeitslosigkeit, hoher Yen augrund eines hochprofitablen Exports- und eines unproduktiven Inlandindustriesektors bloß Ausdruck einer falschen Politik seien, die es zu korrigieren gelte.
Reformzwang gäbe es nur dann, wenn Erneuerungen auf dem normalen Weg politischen Handelns nicht mehr möglich seien. Dann bedürfe es des institutionellen Wandels, aber Rezession und mangelnde Profitabilität des Inlandssektors der Industrie seien nicht auf dem Weg zu Reformen zu lösen. Auch gälte die Verwaltung schon seit Jahrzehnten als veränderungsbedürftig, wie auch die Notwendigkeit der Deregulierung schon lange erkannt sei, aber es sei nicht erkennbar, wieso dafür gerade jetzt eine Reform notwendig sei. Selbst die Bankenkrise sei bis 1997 lösbar gewesen, indem der Staat die faulen Kredite aufgekauft hätte. Erst die zwei großen Bankzusammenbrüche erzwangen eine Bankenreform und führten zur Initiierung des sogenannten Big Bang. Ein Beispiel für die notwendigen aber nur langfristig umsetzbaren Veränderungen, die sich ohne Reformen vollziehen, sieht Waldenberger im Wandel, der sich im Beschäftigungssystem vollzieht. Letztlich seien alle diese Probleme nur langfristig lesbar und deshalb müsse der Staat kurzfristig weiterhin Geld in die Wirtschaft pumpen.

Anschließend sprach Bernd Martin (Universität Freiburg) über Reformen in Japan in historischer Perspektive. Die Ausgangsthese seines Vortrags lautete, dass die Reformen der Meiji-Zeit zu keiner Modernisierung des Landes im Sinne einer Demokratisierung geführt hätten. Vor allem die nach der blinden und erfolglosen Adoption des französischen Rechts- und Schulsystems einsetzende konservative Kritik habe zur Hinwendung zum preußischen Militär- und Staatsmodell geführt, wobei durch die dem faktisch machtlosen Kaiser zugeschriebene göttliche Abstammung die Macht der herrschenden sogenannten Reform-hans verstärkt worden sei. Letztlich habe die Modernisierung nach westlichem Vorbild nur dem Machterhalt gegenüber der eigenen Bevölkerung wie gegenüber den imperialen Großmächten und China gedient. Letztlich seien Japan wie Preußen gleichermaßen unfertige Staaten gewesen, die ihre inneren Spannungen in der imperialistischen Großmachtpolitik nach außen gewendet hätten.

Den ersten Tag beschloß T.J. Pempel mit einem Vortrag zum Thema „Regime Shift: Demographic and International Challenges to Japan’s Political-Economic System“. Der Ausdruck „Regime Shift“ impliziert den Zerfall eines „ancien régime“ und eine Situation, in der die wirtschaftlichen und politischen Kräfte neue Orientierungen suchen, die in der Zukunft wieder zu stabilen Verhältnissen führen könnten. T. J. Pempel (University of Washington, Seattle) konstatierte, dass etwa seit 1985 ein derart grundlegender Wandel in Japan stattgefunden habe.

Als Komponenten eines Regimes identifizierte Pempel die politischen Institutionen, die sozio-ökonomischen Koalitionen und das „public policy profile“ einer Gesellschaft. Die wichtigsten Institutionen des alten Regimes in Japan hatten sich in den späten fünfziger Jahren herausgebildet: die Landwirte, die großen Konzerne und die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) unterstützten alle drei die Liberaldemokratische Partei Japans (LDP) und begründeten deren über Jahrzehnte ungebrochene Einparteienherrschaft. Unter einer Politik, die generell eine geringe Staatsquote anstrebte, konnte sich ein System sozialer Sicherung nicht institutionalisieren, und in der am wirtschaftlichen Wachstum ausgerichteten Interessenkoalition war die „organisierte Linke“ der Arbeitnehmer ausgeschlossen. Die integrative Leistung dieser Koalition bestand vielmehr darin, das Miteinander von dem Wettbewerb orientierter Exportwirtschaft mit den am Binnenmarkt orientierten Wirtschaftsunternehmen einerseits und an staatlichen Ausschreibungen und Subventionen interessierten Politiker mit der national-protektionistischen Bürokratie andererseits zu gewährleisten. Dieses System bezeichnete Pempel als „embedded mercatilism“, mit starker Betonung des nationalen Zusammenhalts, hohen Wachstums, Förderung der Landwirtschaft und der Kleinbetriebe aber auch mit hohen Exportraten.

Gegen Ende der achtziger Jahre konnten große Veränderungen beobachtet werden. Ökonomisch gesehen „platzte“ die über Jahre hochgetriebene „Luftblasenwirtschaft“, die japanischen Aktienwerte fielen auf einen Bruchteil ihres früheren Niveaus und das jährliche Wirtschaftswachstum fiel von 5-6 % in den achtziger Jahren seither auf Null oder sogar in den negativen Bereich. Auf der Ebene der Politik begann eine lange Serie von Abspaltungen kleinerer Partien aus der LDP. Pempel fand dafür drei Ursachenkomplexe:

1. Demographische Veränderungen: Verstädterung der Gesellschaft und damit eine Zunahme der städtischen Mittelklasse, nachlassende Organisationsbereitschaft der Arbeitnehmer, und eine sich umkehrende Alterspyramide mit einem immer kleineren Anteil an Steuerzahlern.

2. Äußeren Druck (gaiatsu): Vor allem von Seiten der USA wird von Japan gefordert, den Außenhandelsüberschuß abzubauen und Handelshemmnisse auszuräumen.

3. Veränderungen der internationalen Finanzmärkte, die auf Japan als „(global) structural gaiatsu“ wirken. Die zunehmende Durchlässigkeit nationaler Grenzen für Geldströme erschwert die Durchführung protektionistischer Maßnahmen. Der Kurs des Yen stieg gegenüber dem Dollar nach dem Plaza-Abkommen, so dass der Exporte teuerer wurden. Dies förderte die Investititionsbereitschaft im Ausland, sowohl in Asien, wo kostengünstiger produziert werden kann, als auch in den USA, um Importauflagen zu umgehen.

Auf diese neuen Bedingungen reagierte Japan mit strukturellen Veränderungen, die zusammen als grundlegender Wandel des Regimes aufgefaßt werden können, auch wenn sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem in der Parteipolitik, Kontinuitäten erhalten haben. Dieses Verhältnis von Kontinuität und Wandel möchte Pempel nicht als honne und oberflächliche tatemae aufgefaßt sehen. Er erklärte vielmehr, dass jede neue Struktur nur von der spezifischen historischen Situation Japans „pfadabhängig“ entstehen kann.

Veränderungen der Wirtschaftsstruktur: Der Zusammenhalt der keiretsu, der großen Konzerne mit ihren Banken und Zulieferern, lockert sich: zwischen 1990 und 1996 hat sich der Anteil „cross-shareholding“ der Unternehmen untereinander von 70 % auf 60 % reduziert. Die verarbeitende Industrie exportiert inzwischen mehr aus Niederlassungen in dritten Ländern als aus Japan. Die Aufträge an die traditionellen japanischen Zulieferer gehen wegen ausländischer Konkurrenz zurück („Aushöhlung“), daher müssen die japanischen Unternehmen ihre Kapazitäten reduzieren und damit die Produktion schwächen. Die damit verbundenen Rationalisierungen bedrohen das System der langfristigen Arbeitsplatzsicherheit. Die Schwäche des japanischen Bankensystems gegenüber der Internationalisierung, ihrer Verwicklung in Spekulationsgeschäfte, während sich die Unternehmen auf dem globalen Finanzmarkt kapitalisieren, begegnet die japanische Regierung mit der Politik des „Big Bang“. Die Regierung versucht, die bedrohten Banken mit Steuergeldern zu stützen, was eine starke Erhöhung der Staatsverschuldung zur Folge hat. Zur Zeit ist ein Trend der Konsolidierung von Banken und Unternehmen feststellbar, Allianzen und Fusionen mit ausländischen Partnern werden eingegangen.

Politische Veränderungen: Nach den Abspaltungen von Untergruppen der LDP zu neuen Parteien und einer Koalitionsregierung mit der Sozialistischen Partei scheint die LDP ihre traditionelle Dominanz wiederhergestellt zu haben. Um die Interessen ihrer Trägerschaft weiter wahrnehmen zu können, ist allerdings eine immer höhere Staatsverschuldung erforderlich, verstärkt durch den zunehmenden Anteil der Bevölkerung mit Pensionsansprüchen. Nach Ansicht von Pempel wird sich diese Vorgehensweise nicht unbegrenzt fortsetzen lassen. Es fehlt ein politischer Ausdruck der neuen gesellschaftlichen Interessen, der Forderungen der städtischen Mittelklasse als Konsumenten, und der Forderungen der Wirtschaft nach Deregulierung und Liberalisierung, ohne jedoch auf Subvention und Protektion verzichten zu wollen. Da der Wahlkampf immer noch nicht mit inhaltlichen Themen und wirtschaftspolitischen Argumenten geführt wird, sieht Pempel zur Zeit nur in anderen Institutionen eine Hinwendung zu diesen Anliegen: in den Lokalregierungen oder den Wirtschaftsverbänden.

Politik und Verwaltung

In seinem Vortrag zu „Entwicklungspfaden der politisch-administrativen Systeme in Japan und Deutschland“ wies Gerhardt Lehmbruch (Emeritus, Universität Konstanz) zunächst darauf hin, dass die unterschiedlichen Reformblockaden in der Bundesrepublik und Japan verschiedenen Wurzeln haben. Neben unterschiedlichen historischen Grundlagen seien dabei im Fall Deutschlands dessen Einbettung in das Mehrebenensystem der Eu sowie die von Globalisierung und Europäisierung ausgehenden Deregulierungsimpulse zu bedenken. So lassen sich auch sektorspezifische Varianzen erklären, die u.a. aus dem Grad der Abschottung oder eben Öffnung gegenüber Europäisierung und Globalisierung resultieren.

Im Zentrum des Vortrages standen jedoch die Entwicklungspfade zentraler Charakteristika des deutschen Staatsmodells sowie dessen Rezeption in Japan. Aus historisch-instsitutioneller Perspektive zeigte Lehmbruch auf, wie ausgehend vom Westfälischen Frieden die Grundsätze der Parität, der föderativen Organisation des Staates sowie der Aushandlung von Konflikten eine prägende Wirkung für die weitere Staatsentwicklung entfalteten. Obwohl Japan Ende des 19. Jahrhunderts zentrale Elemente des deutschen Staatsmodells übernahm, verfügte es dabei jedoch nicht über dessen institutionelle Grundlagen wie Korporatismus samt Vertragsregelungen, Exekutivföderalismus und Sozialstaatsorientierung. So knüpfte man in Japan z.B. eher an das sozialpaternalistische Unternehmertum in Deutschland an, das hier bereits anachronistische Züge aufwies. Insgesamt wurde das deutsche Staatsmodell in Japan von Murakami und anderen als „Haus/ie-Modell“ uminterpretiert.

Lehmbruch wies auch darauf hin, dass das Hierarchiemodell der deutschen Regierungsverwaltung in Japan nur oberflächlich übernommen wurde; Clinquenrevalitäten trugen hier zu einem ausgeprägten Sektionalismus in der japanischen Ministerialbürokratie bei. Der Referent erwähnte in seinem Vortrag auch die unterschiedlichen Rollen von Verbänden (Deutschland) und zaibatsu (Japan) in der politischen Ökonomie der beiden Länder. Zu einer größeren Konvergenz der deutschen und japanischen Staatsmodelle, so Lehmbruch, sei es erst als Folge der amerikanischen Besatzung nach dem 2. Weltkrieg gekommen, wobei allerdings Restbestände des institutionellen Vermächtnisses weiterwirkten. Wolfgang Seifert (Universität Heidelberg) faßte als Diskutant noch einmal die wesentlichen Argumentationsstränge des Referenden zusammen, würdigte die oftmals vernächlässigte historische Sichtweise und wies auf neuere Ergebnisse der japanischen Geschichtsforschung hin.

Den Sprung in die Gegenwart der japanischen Politik vollzogen im Anschluß Verena Blechinger (DIJ) als Referentin und Axel Klein (Universität Bonn) als Diskutant, die sich mit dem Thema der politischen Reformen (Wahlsystem, Regelung zur Finanzierung politischer Aktivitäten und öffentliche Parteienfinanzierung) auseinandersetzen. Ursprünge, Inhalte und akademische Sichtweisen der Reformen wurden dabei genauso diskutiert wie Veränderungen in den Beziehungen zwischen Politikern und Ministerialbürokraten in den vergangen Jahren. Blechinger kam dabei zu einer vorsichtig-optimistischen Gesamteinschätzung der Reformergebnisse.

Yamaguchi Jirô (Hokkaido-Universität, Sapporo) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit notwendigen Reformen in den zentralen Bereichen des politischen Systems. Er verwies vor diesem Hintergrund auf die Erfolge und Mißerfolge der bisher erfolgten Reformanstrengungen, die Lehren aus den bisherigen Koalitionsregierungen und die gegenwärtigen Probleme in bezug auf die Verwaltungsreform. Eine erfolgsversprechende Reform des bestehenden politischen Systems, so Yamaguchi, müsse bei der Stärkung der Rolle der Lokalregierungen ansetzen.

John C. Campbell (University of Michigan, Ann Abor) setzte sich im Anschluß mit der Reform öffentlichen Verwaltungen im allgemeinen sowie den jüngsten diesbezüglichen Anstrengungen in Japan auseinander. Dabei argumentierte der amerikanische Politikwissenschaftler, dass Verwaltungs-reformen nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen könnten, da die eigentlichen Probleme oft in anderen Bereichen liegen würden. Campbell bezeichnete die Kritik an der japanischen Ministerialbürokratie als überzogen und hinterfragte den Sinn von Kürzungsplänen in der öffentlichen Verwaltung bei gleichzeitiger Auflage von massiven staatlichen Konjunkturpaketen. Falls es so etwas wie ein japanisches Modell der Verwaltungsreformen geben sollte, so Campbell, so läge dies in der ausgeglichenen Behandlung aller betroffenen Verwaltungsteile (sog. Baransu-Ansatz).

Wirschaft und Gesellschaft

Werner Pascha (Universität Duisburg) beschäftigte sich mit ordnungspolitischen Leitlinien für Japan. Zunächst wurden allgemeine ordnungstheoretische Positionen vorgestellt: Als konstitutive Elemente der wirtschaftlichen Ordnung wurden neben der Konstanz der Wirtschaftspolitik die Regelbindung für den Akteur Staat, die Durchsetzung der Regeln durch vom Staat unabhängige Agenturen sowie ein funktionaler Föderalismus aufgezählt. Im folgenden wurden die vorgenannten Punkte im Hinblick auf ihre Relevanz für Japan betrachtet. So sorgte das „Eiserne Dreieck“ aus Regierungspartei, Beamten und Wirtschaftsunternehmen für Konstanz, heutzutage seien allerdings Auflösungs-erscheinungen dieses Systems zu erkennen. Danach ging Pascha auf die Entwicklung von Reformen in Japan ein. Er zeichnete die Entwicklung mit zunehmender Verdichtung der Reformen in den vergangenen Jahren nach. Anhand ausgewählter Beispiele wurde im folgenden gezeigt, dass den Reformen in Japan zunehmende Aufmerksamkeit zukommt. Beispielsweise wurde auch nach der entsprechenden Gesetzesänderung weiter über die unabhängige Rolle der Zentralbank diskutiert. Auch die Probleme bei der Umsetzung von Reformen der Wirtschaftsordnung kamen zur Sprache: Weiterhin sei der Einfluß der Bürokratie stark, es bestehe die Gefahr opportunistischer Regelbindungen und einer mangelhaften Verläßlichkeit. Auch die Fortexistenz informeller Beziehungsgeflechte wurde angesprochen.

Der Vortrag wurde von Uwe Vollmer (Universität Leipzig) diskutiert. Er stimmt mit Pascha überein, dass eine fehlerhafte Wirtschaftspolitik zur Wirtschaftskrise in Japan geführt habe und stellte weitere Fragen: Welches sei der „Hauptfehler“ gewesen? Gebe es nicht einen Widerspruch von Unabhängigkeit und Regelbindung (z.B. bei der Rolle der Zentralbank)? Was sei an den Reformen und Problemen „japan-spezifisch“? Vollmer kommt zu dem Schluß, dass ein Systemvergleich weiterhin spannend sei. In der anschließenden Plenumsdiskussion wurde die theoretische Konsistenz der Ausführungen Paschas angesprochen. Der Bezug zu Leitmodellen (Unabhängigkeit versus Regelbindung, oder Unabhängigkeit ergänzt durch Regelbindung) hätte klarer herausgearbeitet werden können. Des weiteren müsse hinterfragt werden, ob die angegebenen westlichen Modelle (Hayek, Eucken) ohne weiteres auf Japan angewandt werden können. Neben der Wirtschaftspolitik, auf die hier als Ursache der Krise hingewiesen wurde, sollten auch Unzulänglichkeiten des Wirtschaftssystems („Korporationskapitalismus“) betrachtet werden. Es wurde die Frage gestellt, ob es denn überhaupt feste Leitlinien für eine Reform der japanischen Wirtschaftspolitik gäbe.

Den zweiten Block der Sektion bildeten gegenwärtige Fragen der Sozialpolitik in Japan. Den Hauptvortrag hielt Ulrike Nennstiel (Hokusei Gakuen University, Sapporo), die die aktuellen Reformen des Sozial- und Wohlfahrtssystems in Japan unter die Lupe nahm. Ihre Beurteilung der Reformen fiel sehr kritisch aus: Der Staat wälze mehr und mehr Leistungen auf Bürger und Kommunen ab, insgesamt würden Sozial- und Wohlfahrtsleistungen gekürzt. Die „stärkere Bürgerbeteiligung“ bestünde darin, dass mehr Eigenleistungen erbracht werden müßten. Zu den Hintergründen der japanischen Sozialpolitik sagte Nennstiel, dass diese wenig Planung aufweise und dass wahltaktische Interessen der Regierungsparteien einen direkten Einfluß ausübten. In der japanischen Sozialwissenschaft ließen sich unterschiedliche Positionen zu den neuen Gesetzen ausmachen; diese reichten von neo-liberalen und kulturalistischen über administische Standpunkte bis hin zu struktureller Kritik an den Reformen. Vom internationalen Kontext her gesehen paßten die Reformen in Japan ins Gesamtbild, sie seien mit ähnlichen Programmen in Schweden oder Großbritannien vergleichbar. Als Diskutant trat Christian Oberländer (z.Zt. Harvard University) auf: Er kommt insgesamt, im Gegensatz zu Frau Nennstiel, zu einer positiveren Beurteilung des japanischen Sozialstaates. Er machte seine Position am Beispiel der japanischen Volksrentenversicherung klar. Vorteil sei gewesen, dass so schon früh breite Bevölkerungsschichten in die Rentenversicherung eingebunden worden seien. Aus Reihen der Zuhörer wurde dazu kritisch angemerkt, dass die Volksrentenversicherung zwar Frauen und Teilzeitarbeiter erfaßte, diese aber wesentlich schlechtere Bedingungen vorfanden als Stammarbeitnehmer in Betriebsrentensystemen. Die unterschiedlichen Beurteilungen von Nennstiel und Oberländer wurden auch in der Diskussion aufgenommen. Es wurde unter anderem gefragt, ob man sich bei der Formulierung der Reformen in Japan an ausländischen Vorbildern orientiert habe.

Es folgte ein Panel zu unterschiedlichen Aspekten der Reformen des Finanzsystems in Japan. Zunächst informierte Toru Morotomi (Yokohama National University) über den Stand der Diskussion zu Umweltsteuern in Japan. Er konzentrierte sich dabei auf die Beteuerung von CO2-Ausstoß aus Kfz und Industrieanlagen. Im folgenden zeigte Andrew DeWit (Shimonoseki City University) auf, wie das deutsche Steuersystem als Vorbild für japanische Umverteilung von Steuern wirkte. Dabei wurde auf die historische Entwicklung ebenso eingegangen wie auf regionale Disparitäten. Im abschließenden Referat befaßte sich Franz Waldenberger, der für Karl Lichtblau eingesprungen war, mit Japans Staatsverschuldung. In der abschließenden Diskussion wurden Einzelaspekte der Panel-Vorträge angesprochen.

Erziehung und Bildung

In seinem einleitenden Beitrag „Entwicklungslinien der Bildungs- und Erziehungssysteme in Japan und Deutschland“ zeichnete Botho von Kopp (DIPF) die Diskussion zur Bildungsreform in beiden Ländern nach. In Japan läßt sich seit vielen Jahren eine Art Dauerreformdebatte ausmachen, die von Schlagworten wie Individualisierung, Dezentralisierung, Deregulierung, Flexibilisierung oder Internationalisierung gekennzeichnet ist. Angesichts dieser Reformrhetorik sind die tatsächlichen Veränderungen bescheiden: Grundlegende Strukturreformen im Bildungswesen haben nicht stattgefunden. Bon Bedeutung sind eher die schulinternen Differenzierungen: Die Spielräume der einzelnen Schule bei der inhaltlichen und methodischen Gestaltung von Unterricht wachsen; die Einrichtung von Bildungsgängen für „slow learners“ und „fast learners“ verweisen auf eine verstärkte individuelle Differenzierung, und mit der generellen „Verschlankung“ von Schule (wie z.B. der Einführung der 5-Tage-Woche) deutet sich ein Trend zum Rückzug aus dem allumfassenden schulischen Erziehungsanspruch (Rundumvereinnahmung) an.

Im Vergleich zu diesen von außen eher wenig sichtbaren Veränderungen konzentrieren sich in Deutschland die Bildungsreformdebatten stärker auf organisatorisch-strukturelle Reformen des Bildungssystems wie das Für und Wider von Gesamtschule und dreigliedrigem Schulsystem oder neuerdings die Modularisierung der beruflichen Bildung.

Inzwischen haben beide Länder ihre weltweite Modellfunktion weitgehend eingebüßt. Während das japanische Bildungssystem für Chancengleichheit, Bildungsexpansion und relative Egalität stand, galt andererseits das deutsche duale System der Berufsausbildung als weltweiter Exportartikel. Gerade diese Modellfunktion dürfte in beiden Ländern Bildungsreformen behindert und verzögert haben. Die Modernisierungsrückstände beziehen sich in Japan vor allem auf den kulturell-sozialen Bereich von Schule und Unterricht, in Deutschland eher auf den strukturellen Aspekt der Organisation des Bildungswesens.

Der Beitrag von Susanne Kreitz-Sandberg (DIJ) über „Reformen im japanischen Schulwesen“ setzte sich konkret mit den einzelnen Schritten und Maßnahmen der japanischen Bildungsreform auseinander. Im Unterschied zu den bisherigen weitgehend wirkungslos gebliebenen Reformdebatten erzwingt die ökonomische Krise zum ersten Mal reale Veränderungen, die sich weniger auf die Organisationsstrukturen des japanischen Bildungssystems, sondern vielmehr auf den Binnenraum von Schule beziehen (Curriculum, Unterrichtsmethodik, Lehrerverhalten). Sowohl die innerschulischen Veränderungen wie auch die tendenzielle Verlagerung der Erziehungsverantwortung auf außerschulische Instanzen deuten auf eine Rücknahme des bisherigen egalitären Anspruchs, auf eine stärkere Polarisierung zwischen Elite- und Massenbildung und auf eine wachsende interne Hierarchisierung des Bildungswesens hin.

Die kommentierenden Anmerkungen von Johanna Schilling (Universität Halle) warfen Fragen nach der Funktion von Alternativschulen im Reformprozess, nach der politischen Steuerungsfunktion des Monbusho und der Eigendynamik der eingeleiteten Reformmaßnahmen sowie nach der Konvergenz der Entwicklung beider Bildungssysteme auf.

In ihrem Kommentar verwies Annette Erbe (Universität Halle) auf den Machtverlust der Lehrergewerkschaft (und damit den Verlust von Gegenmacht), der wesentlich zur Ermöglichung von Reformen beigetragen hat. Weitere Aspekte betrafen die Konkretisierung der viel beschworenen „Internationalisierung“ des japanischen Bildungswesens sowie die Interpretation der zunehmenden Verhaltens- und Gewaltprobleme japanischer Jugendlicher und deren Stellenwert als Anlaß für Reformen.

Tagungsprogramm

1. Tag

Einführungsvorträge

Bernd Martin: Reformen in Japan in historischer Perspektive
Franz Waldenberger: Gegenwärtige Reformzwänge und -ansätze in Japan am Beispiel des Finanzwesens

T.J. Pempel: Regime Shift: Demographic and International Challenges to Japan’s Political-Economic System

2. Tag

Politik und Verwaltung

Gerhardt Lehmbruch: Entwicklungspfade der politisch-administrativen Systeme in Japan und Deutschland
Verena Blechinger: Politische Reformen in Japan – Auswirkungen und Perspektiven

YAMAGUCHI Jirô: Result of Unfinished Reforms – Structure of Political and Administrative Reform in Japan in the 1990s

John C. Campbell: Administrative Reform as policy-change and non-change

3. Tag

Wirtschaft und Gesellschaft

Werner Pascha: Ordnungspolitische Leitlinien in Japan und Deutschland
Ulrike Nennstiel: Reformen in Japans Sozial- und Wohlfahrtssystem

PANEL: Public Finance and Fiscal Policy
(mit Andrew DeWit, MOROTOMI Toru und Franz Waldenberger )

Erziehung und Bildung

Botho von Kopp: Entwicklungslinien der Bildungs- und Erziehungssysteme in Japan und Deutschland
Susanne Kreitz-Sandberg: Reformen im japanischen Schulwesen