Fachgruppensitzung Bildung und Erziehung 2019

16:00-16:40 Dr. des. Ami Kobayashi (Universität Düsseldorf/Landau): Kollektiverziehung in Japan: Schulbildung und die Entstehung neuer Schichten nach dem Zweiten Weltkrieg

A.S. Makarenko (1888 – 1939) war einer der einflussreichsten Pädagogen nach dem Zweiten Weltkrieg. Einerseits galt seine „Kollektiverziehung“ als offizielle Pädagogik der Sowjetunion, anderseits rezipierten nicht wenige kapitalistische Länder wie Japan Makarenkos Pädagogik. Obwohl sich die japanische Gesellschaft allgemein eher an der us-amerikanischen und kapitalistischen Gesellschaft orientierte, orientierte sich der japanische Lehrerverband stark an der Pädagogik der Sowjetunion, um ihren Wiederstand gegen das staatliche Erziehungsprogramm zu stützen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist zwar von Makarenkos Kollektiverziehung nichts mehr zu hören. Allerdings sind die Nachwirkungen davon immer noch in der japanischen Schulpraxis und bei japanischen Unternehmern zu beobachten. In ihrem Vortrag stellte Ami Kobayashi ihr Forschungsvorhaben vor, in dem „Kollektiverziehung“ in Japan untersucht wird. Dabei liegen besondere Forschungsschwerpunkte auf (1) außercurricularen und außerschulischen Bereichen, die besonderes von Makarenkos Ideen geprägt waren, und (2) auf Aspekten von Gender und Sexualitäten des scheinbar geschlechtsneutralen „Schülerkollektivs” sowie „Lehrerkollektivs“. Da die Forschung als Teilprojekt eines KAKEN-Projektes läuft, in dem die Entstehung neuer Schichten durch die Nachkriegsschulbildung untersucht wird, wurde auch kurz das gesamte KAKEN-Projekt vorgestellt.

16:40-17:20 Vincent Lesch, M.A. (Universität Hamburg): Nicht-formale Erziehung und zivilgesellschaftliches Engagement: Der Fall einer kostenlosen Nachhilfeschule für Kinder aus sozialschwachen Familien

Die Nachfrage nach Bildung hat sich in den letzten Jahrzehnten aufgrund des gesellschaftlichen Wandels und der Globalisierung deutlich verändert. Zunehmende Bildungs- und Chancenungleichheiten (u.a. Chiavacci und Hommerich 2017; Fujihara und Ishida 2016) sowie eine wachsende Notwendigkeit, in Bildung zu investieren (Entrich 2016), haben dazu geführt, dass die traditionellen Akteure im japanischen Bildungssystem diesen Anforderungen nicht mehr gerecht werden können. Dies hat nicht nur gravierende Auswirkungen auf formale Bildung und profitorientierte Bildungsangebote, sondern es ist auch eine zunehmende Beteiligung der Zivilgesellschaft im Bildungssektor zu beobachten (Okano 2016). Nicht nur der privatwirtschaftliche Sektor, in welchem zusätzliche Bildungsangebote z.B. an Nachhilfeschulen (juku) seit langem schon zum Alltag eines japanischen Schülers gehören (Entrich 2018), sondern auch die Zivilgesellschaft hat neuerdings eine immer größere Rolle in der Vermittlung von Wissen und Bildung in den unterschiedlichsten Bereichen.

Der Vortrag befasste sich mit dem ergänzenden Bildungsangebot einer NPO-geleiteten Nachhilfeschule für schulpflichtige Kinder aus sozialschwachen Familien. Er untersuchte, wie sich die Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteuren in den letzten Jahren gewandelt hat und analysierte die Konsequenzen für die betroffenen Schüler, ihre Familien sowie für das japanische Bildungswesen. Obwohl zusätzliche Bildungsangebote, die Schüler auf die nächste Schulstufe vorbereiten, oft kostenintensiv sind, nehmen sozialschwache Familien solche kostenlosen Angebote von zivilgesellschaftlichen Akteuren wie beispielsweise der NPO, welche im Zentrum dieser Untersuchung steht, nur zögerlich wahr.

Okano’s (2016) Konzept der nicht-formalen Bildung (nonformal education), welche sich mit Bildung außerhalb des staatlichen Systems befasst, bildet bei dieser Untersuchung das Rahmengerüst, um eine umfassendere und ganzheitliche Betrachtung der von NPOs oder anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren bereitgestellten zusätzlichen Bildungsprogramme zu ermöglichen und Vorteile sowie Grenzen solcher Programme aufzuzeigen. Es wurden ethnographische Daten präsentiert, die ein besseres Verständnis über die Tätigkeit dieser NPO-geleiteten Nachhilfeschule auf der Mikro-Ebene ermöglichen. Die Daten wurden während umfassender Feldforschung in Tokyo (Juni – Aug. 2017, Feb. 2018, Okt. 2018) durch teilnehmende Beobachtung während des Unterrichts der NPO-geführten kostenlosen Nachhilfeschule für Grund- und Mittelschüler und persönlichen Kommunikationen mit NPO Gründern, freiwilligen Lehrern, Unterstützern der NPO sowie den Schülern gesammelt. Auffällig ist hier einerseits, dass ein Großteil der Kinder, welche das Programm nutzen, aus Haushalten mit alleinerziehenden Müttern stammen und andererseits – was für Japan eher untypisch ist – die NPO sich vollständig von staatlicher Unterstützung, Förderung und Vorgaben fernhält.

Die vorliegende NPO ist ein Beispiel für eine zivilgesellschaftliche Organisation, die aufgrund eines spezifischen Problems, gegen welches das japanische Bildungssystem nur unzureichende Maßnahmen ergreift, gegründet wurde, es weitgehend ohne formale Unterstützung der Regierung zu lösen versucht und seinen Aufgabenbereich zielgerichtet ausweitet. In einem System, welches durch ministeriale Kontrolle geprägt ist (u.a. Ogawa 2009, 2014; Pekkanen 2006; Schwartz und Pharr 2003), ist dies ein vielversprechendes Untersuchungsobjekt für eine weitgehend unabhängige Form des zivilgesellschaftlichen Handelns im japanischen Bildungssektor.