Fachgruppensitzung Politik 2011

Im Rahmen der VSJF Jahrestagung 2011 im Tagungszentrum Heinrich-Pesch-Haus in Ludwigshafen traf sich die VSJF-Fachgruppe Politik am Samstag Nachmittag (26.11.2011) zu einer vierstündigen Sitzung. Im ersten Teil der Sitzung, thematisierten die Fachgruppen Politik sowie Stadt- und Regionalforschung in Einzelvorträgen und offener Paneldiskussion die Ereignisse des 11. März 2011 und deren Auswirkungen auf Japans Politik. Im zweiten Teil wurden in der Fachgruppe Politik dann drei Dissertationen (eine abgeschlossene Arbeit und zwei laufende Projekte) präsentiert bzw. zur Diskussion gestellt.

Kerstin Lukner und Alexandra Sakaki (beide Universität Duisburg-Essen) eröffneten mit einem Referat aus den Inhalten eines von ihnen gemeinsam verfassten Beitrags (erschienen in: WeltTrends, Zeitschrift für Internationale Politik, Nr. 80) die Paneldiskussion zu den politischen Folgen des 11. März. Im Zentrum des Vortrags stand die Frage nach der Effizienz des Krisenmanagements unter Premierminister Naoto Kan. Dieses wurde auch unter der japanischen Bevölkerung überwiegend als „schlecht“ eingestuft. Als zentralen Grund dafür, dass das Krisenmanagement der Regierung Kan nicht optimaler gestaltet werden konnte, machten die Referentinnen das gegenseitige Misstrauen und den mangelnden Willen zur Kooperation aus, welche die Interaktionen zwischen der Vielzahl der relevanten Akteure prägten. Sie bezogen sich dabei auf die Interdependenzstrukturen innerhalb des „Nuklearen Dorfes“ (genshiryoku-mura), welches den Energiesektor und insbesondere die AKW-Betreiber in Abhängigkeitsstrukturen verknüpft mit politischen Akteuren, verschiedenen Ministerien, der Wissenschaft und der Medienlandschaft. Unter den Ministerien hervorzuheben ist dabei das Wirtschaftsministerium (METI), welches über die ihm angegliederte Nuclear and Industrial Safety Agency für die Lizenzierung und Inspektion von Kernkraftwerken zuständig ist, gleichzeitig aber auch durch die ihm zugeordnete Natural Ressources and Energy Agency dem Auftrag der Förderung der Kernenergie in Japan unterliegt. Unter den politischen Akteuren fand die regierende Demokratische Partei Japans (DPJ) gesonderte Erwähnung, welche zwischen dem Wahlkampf und der Regierungsübernahme 2009 einen deutlichen Kurswechsel in ihrer Energiepolitik vollzog. Wurde im Wahlkampf noch von einer Steigerung des Anteils erneuerbarer Energieformen (von gut einem Prozent) auf 10% bis 2020 gesprochen, so wurde nach der Regierungsübernahme nur noch eine minimale Steigerung auf 1,63% bis 2014 angestrebt. Als Gründe für diesen Kurswechsel machen Lukner und Sakaki einen fehlenden energiepolitischen Konsens innerhalb der DPJ, politischen Druck seitens des Unternehmerverbandes Keidanren und des Gewerkschaftsdachverbandes Rengō aus, ebenso wie den Einfluss des METI innerhalb des Kabinetts. Lukner und Sakaki stellten heraus, dass die Bewältigung der Fukushima-Krise insbesondere dadurch erschwert wurde, dass sowohl die Kommunikation als auch die Kooperation zwischen der Ministerialbürokratie sowie der Betreiberfirma des AKW Fukushima (TEPCO) auf der einen Seite und der DPJ-Regierung auf der anderen Seite vor allem zu Beginn der Nuklearkatastrophe durch gegenseitiges Misstrauen und daraus resultierende (Informations-)Zurückhaltung geprägt war. Dies illustrierten sie an verschiedenen Beispielen.

Thomas Feldhoff (Goethe-Universität Frankfurt am Main, VSJF-Fachgruppe Stadt- und Regionalforschung) griff in seinem anschließenden Referat den Aspekt der engen Verbindungen zwischen einigen dieser zentralen Akteure auf und brachte zusätzlich in diese Struktur politischer Interessens- und Strukturverflechtungen die Ebene der Kommunen ein. So war der Ausbau der Kernenergie in Japan bereits seit den 1950er Jahren ein nationales politisches Desiderat, das einherging mit einem steigenden Energiebedarf, der sich aus Bevölkerungswachstum und Wirtschaftswachstum speiste. Die Ölkrisen der 1970er Jahre führten zusätzlich die Gefahren von energiepolitischer Importabhängigkeit deutlich vor Augen. Kurzum, Kernenergie – dargestellt in Werbekampagnen und teils von „imaginären“ Bürgergruppen beworben – wurde als anscheinend sichere, preiswerte und ökologisch verträgliche Energieform zum zentralen Element des japanischen „Ressourcennationalismus“. Das NIMBY (not in my backyard) Phänomen der zum Bau von AKWs ausgewählten Kommunen zu überwinden, wurde entsprechend zu einer Aufgabe von Bedeutung für die nationale Sicherheit. Die Realisierung von Standorten ging einher mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Bereitstellung von Finanzmitteln für die Kommunen. Im Zuge dieser Wechselwirkungen entstand das Genpatsu-Ginza-Phänomen, also die Clusterbildung von AKWs in Strukturschwachen Regionen, wie etwa Tohoku oder auch in der Präfektur Fukui an der Japansee-Seite. Auf das Konzept der Pfadabhängigkeit innerhalb von Politikfeldern verweisend schloss Feldhoff skeptisch was eine grundlegende Revision der japanischen Energiepolitik betrifft.

In einem Koreferat wies Christian Tagsold (Heinrich-Heine Universität Düsseldorf) darauf hin, dass die Reduzierung des Themas der politischen Folgen des 11. März auf den Aspekt Fukushima dem Thema nicht gerecht werde. Er berichtet von Eindrücken aus seiner Feldforschung in den Präfekturen Iwate und Miyagi. Unter den Bürgermeistern der von Erdbeben und Tsunami schwer betroffenen Gebieten, z.B. Rikuzentakata, mache sich die Sorge breit, von der Nationalregierung „vergessen“ zu werden. Damit der Wiederaufbau der Region erfolgreich verlaufen könne, müssten dafür Finanzmittel bereit gestellt werden, die z.B. den infrastrukturellen Anschluss der Kommunen an regionale Zentren, etwa Sendai, sicherstellten. Doch diese stehe nüchternen Kosten-Nutzen-Überlegungen entgegen. In der anschließenden Paneldiskussion und der Diskussion mit den Fachgruppenteilnehmern wurden zahlreiche Aspekte der Vorträge wiederaufgegriffen und vertieft, so etwa Fragen nach der Entwicklung der Kernenergie in Japan und der Rolle der USA in diesem Prozess, nach der Relevanz von sozialem Kapital beim Wiederaufbau nach Desastern, oder auch nach der in Japan und Deutschland unterschiedlichen Medienarbeit während und nach den Katastrophen des 11. März. Unnötig zu erwähnen ist, dass die Fragen nicht erschöpfend diskutiert werden konnten und viele mitgenommen wurden in die anschließende Kaffeepause.

Im zweiten Teil des Fachgruppentreffens machte Momoyo Hüstebeck (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) den Auftakt mit einer Vorstellung der zentralen Ergebnisse ihrer abgeschlossenen Promotion zum Thema: Partizipative Governance in japanischen Gemeinden als Chance für mehr Mitbestimmung? Im Zuge der Dezentralisierungsmaßnahmen der letzten beiden Dekaden erfuhr die partizipative Governance in Japan einen deutlichen Aufschwung. Hüstebeck verdeutlicht in ihrer Dissertation an den Fallbeispielen Mitaka und Fujimi zwei Strukturen von Bürgerteilhabe an kommunalen Prozessen: zum einen von Bürgern initiierte Bürgerteilhabe, zum anderen aber auch von Kommunen initiierte Bürgerteilhabe, z.B. in der Form von Einladungen zur Partizipation an Ausschüssen, Workshops etc. Als bereits offensichtliche Erfolge der intensivierten Bürgerteilhabe benennt sie Legitimationssteigerung und Transparenzsteigerung des politischen Prozesses, ein wachsendes Bürgerbewusstsein, das einhergeht mit wachsenden politischen und sozialen Kompetenzen, sowie die Gestaltung weiterer Partizipationsanreize. All dies führe idealtypisch zu einer deutlicheren Identifikation mit den Kommunen und einer steigenden Lebenszufriedenheit. Dem gegenüber stehen jedoch einige Hemmnisse der Bürgerteilhabe, allen voran mangelnde Zeit zur Partizipation, ungelöste Fragen der Legitimation von Repräsentation und die mangelnde Verbindlichkeit von Bürgervorschlägen, wie sie sich etwa in Referenden zeigt. Gefordert sei im Sinne einer qualitativen Weiterentwicklung des politischen Systems Japans die weitere Verankerung partizipativer Elemente.

Stefanie Schäfer (Freie Universität Berlin) berichtete einen ausgewählten Aspekt ihres Promotionsprojekts unter dem Titel: Von den Geisha Girls zum Atombombendom: Über den Einfluss der Tourismusförderung auf die Entstehung des Atombombengedenkens. Schäfer argumentiert auf der Basis qualitativer Textanalysen von Quellen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und ausgewählter Sekundärliteratur, dass sehr schnell nach Kriegsende die Atombombe von städtischen Akteuren als lokaler Wirtschaftsfaktor entdeckt wurde. So wurde der Tourismusverband Hiroshima bereits im Jahr 1947 gegründet. Schon im folgenden Jahr war der Atombombendom, die ehemalige Industrie- und Handelskammer Hiroshimas, zur Hauptattraktion der Stadt geworden, Atombombenreliquien wurden gesammelt und der Entschluss, einen Friedenspark mit Friedensmuseum zu errichten, fiel. Die weiteren Entwicklungen verliefen so rasant, dass 1951 bereits über eine Million Besucher nach Hiroshima strömten. Mit den Jahren änderte das Gedenken an den Atombombenabwurf in Hiroshima jedoch seinen Stil, weg von einem anfänglich noch tendenziell „bunten“ Gedenken (inklusive matsuri) hin zum stillen Erinnern. Eingebettet in Ansätze aus der Forschung zu dark tourism will diese Dissertation die Frage der Atombombererinnerung in einen neuen Rahmen stellen und Überlegungen beitragen zur Kommerzialisierung der Kriegserinnerung bzw. allgemeiner der Erinnerung an Gewaltverbrechen.

Im abschließenden Beitrag der Fachgruppensitzung 2011 stellte Hanno Jentzsch (Universität Duisburg-Essen) Überlegungen zum research design seines Promotionsvorhabens vor, welches unter dem Titel Stabilität und Wandel in Japans landwirtschaftlichen Unterstützungs- und Protektionsregimen steht. Das Vorhaben, dem sich Jentzsch mit eigener Feldforschung in einem Obstanbaubetrieb in der Präfektur Yamanashi stellen möchte, steht unter der zentralen Frage: Wie reagieren die lokalen Bauern in Voll- oder Teilzeit auf die agrarpolitischen Veränderungen seit den 2000er Jahren? Die zentrale agrarpolitische Veränderung des Untersuchungszeitraums ist das New Agricultural Basic Law aus dem Jahr 2000, eine Revision des Gesetzes von 1961. Das Gesetz formuliert die Abkehr vom ichiritsu nōsei, wonach jeder Farmhaushalt subventionsberechtigt war. Inzwischen gilt eine Farmmindestgröße von vier Hektar als notwendig, um Subventionen erhalten zu können. Jentzsch machte deutlich, dass kleinere Betriebe diese Neuregelung schlichtweg dadurch umgehen, dass sie sich zu Kooperativen einer entsprechenden Größe zusammenschließen. Jentzsch möchte seine Dissertation in die Reihe der Studien zum institutionenpolitischen Wandel in Japan stellen. Zentrale Begriffe seines Institutionenverständnisses sind dabei Ambiguität und Interdependenz. Ausgehend vom Hintergrund einer institutionalisierten ungleichen Ressourcenverteilung wird er politische, wirtschaftliche und private Initiativen und deren Ergebnisse aus der Reform des Agrarsektors vorstellen und geht dabei davon aus, dass Institutionen die entscheidende Ressource in politischen Aushandlunsgprozessen darstellen.

Alle drei Projektvorstellungen wurden von den knapp 30 Teilnehmern der Fachgruppe lebhaft diskutiert. Die Fachgruppensprecherinnen bedanken sich bei den Vortragenden und bei den Teilnehmern der Sitzung und laden schon jetzt zum nächsten Treffen ein, das im Rahmen der Jahrestagung 2012 stattfinden wird.

Gabriele Vogt (Universität Hamburg)