Fachgruppensitzung Stadt- und Regionalforschung 2002

Die Aktivitäten der Fachgruppe „Stadt- und Regionalforschung“ fokussierten in diesem Jahr auf das Thema „Urban and Regional Governance“. Dabei wurde aufgrund der fachlich nahestehenden Ausrichtung jeweils eine Gemeinschaftsveranstaltung mit den Fachgruppen „Kultur“ und „Medien/Populärkultur“ sowie mit der Fachgruppe „Politik“ abgehalten.

Im Rahmen des ersten Veranstaltungsteils, der gemeinsamen Sitzung mit den Fachgruppen „Kultur“ und „Medien/Populärkultur“, fanden zwei Vorträge statt. Zunächst berichtete Nadja Brinker (München) über „Üble Orte am Rande der Stadt – zur Bedeutung der Freuden- und Theaterviertel für die urbane Gesellschaft der Tokugawa-Zeit“. Als geographische Zentren der bürgerlichen Unterhaltungskultur stellten diese Viertel einen auch räumlich abgrenzbaren „Kontrapunkt“ zu der offiziellen Kultur und zu den Werten des Tokugawa-Regimes dar (vgl. auch den Tagungsbericht der Fachgruppe „Kultur“). In der Diskussion wurde u.a. auf die bis in die Gegenwart hinein zu beobachtende räumliche Persistenz der traditionellen Freuden- und Theaterviertel sowie auf die Standortgemeinschaft zu Vierteln der Burakumin am Beispiel der Hauptstadt Tôkyô hingewiesen.

Anschließend referierte Christoph Brumann (Köln) über „Das Neue im Alten: Kyôtos machiya-Bewegung und die Erfindung japanischer Traditionen“. Er wies insbesondere darauf hin, dass sich die Kyôtoer machiya-Bewegung nicht einfach unter dem populären Konzept der „invention of tradition“ abhandeln lasse. Sozial gründe sich diese Bewegung, die den Zugang zu und die Aktivitäten in den machiyain den Vordergrund stelle, auf den privaten Charakter der Bewegung. Sie werde in erster Linie von Individuen und Kleinfirmen getragen und sei dementsprechend mannigfaltig und durchaus als populärkulturell zu bezeichnen. In Anlehnung an Marshall Sahlins könne der machiya-Boom in Kyôto daher eher mit dem Begriff „inventiveness of tradition“ beschrieben werden.

Beide Vorträge zeigten die Fruchtbarkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit auf.

Im zweiten Veranstaltungsteil wurde das Programm aktiv gemeinsam mit der Fachgruppe „Politik“ gestaltet (vgl. auch den Tagungsbericht der Fachgruppe „Politik“). Winfried Flüchter und Thomas Feldhoff (Duisburg) stellten zunächst ihr von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Forschungsprojekt vor:„Japan: Raumwirksame Baulobbytätigkeit im Spannungsfeld zwischen systemischer Stabilität und nachhaltiger Regionalentwicklung“. Nach einem kurzen Überblick zur Konzeption des Projektes, die bereits auf der VSJF-Jahrestagung 2001 ausführlich präsentiert worden war, ging es schwerpunktmäßig um erste Ergebnisse zur Entwicklung der japanischen Bauwirtschaft sowie um die Vorstellung der geplanten Fallstudien.

Zunächst erlebte die Bauwirtschaft im Japan der Nachkriegszeit einen ungeahnten Boom. Kein anderer Wirtschaftszweig war auf dem Höhepunkt der Entwicklung Mitte der 1990er Jahre von der Beschäftigung her ähnlich wichtig für Japan. Seit 1997 schrumpft der Baumarkt jedoch, und die damit einhergehende Krise der Bauindustrie entwickelt sich zusehends zu einem Dauerproblem für Japan. Besonders die Lage der öffentlichen Haushalte erscheint heute, nach zehn staatlichen Sonderprogrammen zur Belebung der Konjunktur in den Jahren 1992 bis 2000, alles andere als günstig. Zentralregierung, Präfekturen und Gemeinden sind in Sachen öffentliche Bauinvestitionen wegen der wachsenden Finanznot längst an ihre Grenzen gestoßen. Die reformorientierte Regierung von Ministerpräsident Koizumi hat daher ihren Amtsantritt mit der Ankündigung verbunden, einschneidende Kürzungen bei den Investitionen für öffentliche Arbeiten vorzunehmen. Dies trifft die Bauwirtschaft um so härter, als den Gebietskörperschaften als Auftraggeber öffentlicher Bauvorhaben traditionell eine besonders große Bedeutung zukommt. Die Branche gilt zugleich auch als Inbegriff der viel und kontrovers diskutierten „Japan AG“. Deren Funktionsweise basiert insbesondere auf dem sogenannten „Eisernen Dreieck“ Japans“, dem engen informellen Zusammenspiel der Schlüsselakteure in Politik, Verwaltung und Wirtschaft.

Nur bei oberflächlicher Betrachtung erscheint die Stabilität des „Eisernen Dreiecks“ angesichts der unbewältigten Wirtschaftskrise und diverser Reformmaßnahmen in zunehmenden Maße brüchig. Aufgrund des immer noch großzügig fließenden Schmieröls öffentlicher Gelder erweist es sich de facto jedoch im Hinblick auf die Bauwirtschaft, so lautet die zentrale These, als ausgesprochen vital. Zur Wahrung ihrer Besitzstände werden die mächtigen Bau-Lobbyisten auch künftig reformerisches Handeln eher lähmen als fördern und mit ihrem Eigennutz-orientierten „Weiter so wie bisher“ die dringend erforderliche Konsolidierung der Baubranche verzögern. Die staatlich organisierte Umverteilung von Einkommen durch öffentliche Infrastrukturinvestitionen findet ihren Niederschlag in der Tatsache, dass die ländlichen Präfekturen bei den Bauinvestitionen pro Kopf der Bevölkerung gewöhnlich weitaus besser abschneiden als die Metropolen. Da diese Form raumwirksamer Staatstätigkeit in Japan ökonomisch ineffizient, in vielen Fällen auch ökologisch bedenklich und von der Bevölkerung vor Ort nicht immer akzeptiert ist, erscheint sie unter Aspekten von Nachhaltigkeit höchst problematisch. In diesem Zusammenhang wurden drei Beispiele für zunehmende zivilgesellschaftliche Widerstandspotentiale angeführt, die im Rahmen von Fallstudien genauer zu untersuchen sein werden: die Einpolderung der Isahaya-Bucht (Präfektur Nagasaki), der Bau des neuen Flughafens Kôbe (Präfektur Hyôgo) und das Dammbauprojekt am Yoshino-Fluss (Präfektur Tokushima).

Ein ausführlicher Artikel mit ersten Ergebnissen unter dem Titel „Die Krise der japanischen Bauwirtschaft – Aufbruch zum Wandel?“ erscheint im Dezember-Heft 2002 der Zeitschrift „Japan aktuell“, die vom Institut für Asienkunde (Hamburg) herausgegeben wird.

Abschließend präsentierte Svenja Bolten (Duisburg) ihren „Erfahrungsbericht: Drei Monate in Begleitung eines japanischen Parlamentsabgeordneten“. Als Praktikantin hatte die Duisburger Studentin der Ostasienwissenschaften Gelegenheit, den Unterhausabgeordneten Yashido Eta zu begleiten bzw. als Assistentin auch aktiv zu unterstützen. Yashido Eta (65 Jahre) ist Mitglied der regierenden Liberaldemokratischen Partei Japans (LDP) und seit rund drei Jahrzehnten in der nationalen Politik tätig – er war zunächst Oberhaus-, später Unterhausabgeordneter, kurzzeitig auch Minister für das Post- und Fernmeldewesen. Er ist der einzige Parlamentsabgeordnete in Tôkyô, der seit einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist. Sein besonderes politisches Engagement gilt vor dem Hintergrund seines persönlichen Schicksals einer behinderten- und altengerechten Stadtplanung. In ihrem anschaulichen Vortrag vermittelte Svenja Bolten einen ausgesprochen lebhaften Eindruck von ihren Erfahrungen aus dem Leben eines japanischen Politikers. Aufgrund der Bereitschaft des Abgeordneten, sich persönlich ihrer Betreuung anzunehmen und sie am Alltagsgeschäft weitgehend teilhaben zu lassen, war das Praktikum eine sehr wertvolle, vielleicht einmalige Erfahrung.

Für die Mitglieder der Fachgruppe „Stadt- und Regionalforschung“ haben sich die beiden diesjährigen Gemeinschaftssitzungen als ausgesprochen anregend erwiesen. Insbesondere der Kontakt zur Fachgruppe „Politik“ soll künftig durch den gegenseitigen Informationsaustausch weiter vertieft werden.

Bericht: Thomas Feldhoff, Duisburg