VSJF-Preis 2011

Julia Canstein

„Die japanische Diskussion über soziale Ungleichheit in der Bildung: Erklärungsansätze und Lösungsvorschläge“, Japan 2010: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. S. 291-327. –> Zum Beitrag im Japan Jahrbuch 2010

Laudatio

Gestatten Sie vorweg die Bemerkung, dass der Jury erfreulicherweise eine Fülle guter und sehr guter Aufsätze vorlag, so dass von Anfang an klar war, dass der Preis in diesem Jahr tatsächlich erstmals verliehen werden könnte.

Drei Aufsätze kamen in die engere Wahl. Alle drei setzen sich in erfreulicher Tiefe mit japanischer Literatur auseinander, fallen thematisch klar in den Bereich der sozialwissenschaftlichen Japanforschung, bestechen als gut formulierte und wohlorganisierte Texte. Es war nicht leicht, eine Auswahl zu treffen. Letztlich entschied sich die Jury nach intensiven Überlegungen und Vergleichen für den Beitrag „Die japanische Diskussion über soziale Ungleichheit in der Bildung: Erklärungsansätze und Lösungsvorschläge“ von Frau Julia Canstein.

Der Beitrag ist im VSJF-Japan-Jahrbuch 2010 erschienen.

Frau Canstein, Doktorandin im Promotionskolleg „Bildung und soziale Ungleichheit“ am Institut für Pädagogik der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, greift darin grundlegende Fragen der internationalen Bildungssoziologie auf: woher kommt soziale Ungleichheit in der Bildung, welche Formen nimmt sie an, wie kann sie überwunden werden?

Der klar strukturierte Aufsatz gibt einen Überblick über die japanische Debatte über soziale Ungleichheit in der Bildung, genauer: er fasst die Erkenntnisse japanischer Bildungssoziologen und Gewerkschafter zu dieser Frage zusammen.

Er beginnt mit der in Japan üblicherweise verwendeten Definition von sozialer Ungleichheit in der Bildung, die vor allem auf den Einfluß des familiären Hintergrunds auf den Bildungserfolg abstellt.

Sodann werden die zwei wichtigsten Erklärungsansätze für die Ursachen dieser Ungleichheit herausgehoben: der eine stellt die Finanzkraft der Familie in den Mittelpunkt, der andere das Bildungsengagement der Eltern. Beide Erklärungsansätze werden ebenso präzise wie pointiert nachvollzogen.

Weiterhin stellt Frau Canstein Lösungsansätze vor, die von japanischen Bildungssoziologen und Gewerkschaftern diskutiert werden, und gliedert auch diese übersichtlich in zwei Gruppen: zum einen handelt es sich um politische Ansätze für die Makro-Ebene, zum anderen um pädagogische Modelle für die Mikro-Ebene. Als wesentlicher Unterschied zur bildungspolitischen Diskussion in Deutschland wird hervorgehoben, dass man in Japan nicht bei den Institutionen ansetzt, sondern bei den Kosten für Bildung bzw. den unterschiedlichen Möglichkeiten der Familien, diese zu tragen. Vorgeschlagen wird z.B. die Einführung eines Grundeinkommens oder die Abschaffung der Schulgebühren.

Das Fazit bietet schließlich eine konzise Zusammenfassung und einen Vergleich der japanischen Vorschläge mit dem Stand der deutschen Forschung.

Im Ergebnis stellt sich der Aufsatz als exzellenter Überblicksartikel dar, der die einzelnen Positionen in Japan klar herausarbeitet, gewichtet, einordnet, bewertet und die Diskussion in Deutschland in anregender Weise mit berücksichtigt.

Selbstverständlich benutzt Frau Canstein in erheblichem Umfang japanische Originalquellen. Freilich trifft dies erfreulicherweise auf die meisten eingereichten Aufsätze zu, was wohl auch als Qualitätsmerkmal der japanwissenschaftlichen Nachwuchsforschung betrachtet werden kann.

Ein weiterer Pluspunkt des Aufsatzs von Frau Canstein ist seine sehr gute Lesbarkeit, und zwar auch für ein breiteres, nicht-japanwissenschaftliches Publikum.

Der Text ist kenntnisreich und informativ geschrieben und besticht gleichzeitig durch seine Stilsicherheit und hervorragende Verständlichkeit. Insofern ist er geradezu ein Musterbeispiel für wissenschaftliches Schreiben.

Last but not least hebt die Jury als einen Vorzug des Aufsatzes von Frau Canstein die Anschlussfähigkeit an die deutschlandbezogene bzw. internationale Bildungsforschung hervor. Die Frage sozialer Ungleichheit in der Bildung wird ja auch in Deutschland diskutiert, wobei Japan mit seiner Institution der ganztägigen Gemeinschaftsschule ohne Sitzenbleiben gerade auch hierzulande arbeitenden Bildungsforschern und –forscherinnen interessante Vergleichsmöglichkeiten bieten kann. In diesem Sinne ist dem Aufsatz eine größere fachöffentliche Aufmerksamkeit über die Japanwissenschaften hinaus zu wünschen.

Die Bezüge zur deutschen Debatte waren allerdings kein primäres Kriterium für die Bewertung. Wenn, wie im vorliegenden Fall, jedoch japanwissenschaftliche Qualität und Anschlussfähigkeit an die deutsche Forschung zusammenkommen, ist dies in besonderer Weise erfreulich und preiswürdig.

Schließlich: Dass der Beitrag im VSJF-Jahrbuch erschienen ist, war ebenfalls kein Entscheidungskriterium, macht im Ergebnis aber deutlich, welches erfreuliche Niveau und welchen Förderungseffekt sich das Jahrbuch unter seinen jetzigen und früheren Herausgebern erarbeitet hat.

Die Jury gratuliert Frau Canstein sehr herzlich zum Gewinn des 1. VSJF-Preises für den besten sozialwissenschaftlichen Nachwuchsaufsatz zu Japan in deutscher Sprache.

November 2011

Jury: Pascha, Schmidtpott, Vosse

–> Zum Beitrag im Japan Jahrbuch 2010