Fachgruppensitzung Erziehung 2000

Die Sitzung der Fachgruppe in diesem Jahr profitierte sehr von den beiden sich inhaltlich sinnvoll ergänzenden, gleichermaßen anregenden und inhaltsreichen Vorträgen. Ihre Ankündigung hatte auch Interessierte aus anderen Fachgruppen zu uns gezogen, so dass wir, auch wenn einige der langjährigen TeilnehmerInnen diesmal fehlten, eine für unsere Verhältnisse stattliche Gruppe von dreizehn waren.

Zunächst referierte Julian Dierkes, Doktorand der Soziologie in Princeton, über sein Promotionsthema, die Darstellung der Nation in japanischen, bundesdeutschen und DDR-Schulbüchern für Geschichte. In seinem Referat beschränkte er sich darauf, vor allem die Merkmale der japanischen Darstellung in Gegenüberstellung zu internationalen Entwicklungen zu schildern, sowie theoretische und methodische Fragen zu erörtern. Dies war insbesondere vor dem Hintergrund des Tagungsthemas „Vergleich“ von Interesse und so standen auch Fragen dazu im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion. Julian Dierkes wählte jeweils drei Schulbücher der Mittelschule in Japan, der Realschule (darunter auch für Real- und Hauptschule sowie für Realschule und Gymnasium zugelassene) in der Bundesrepublik sowie des entsprechenden einheitlichen Schultyps für die DDR und erfasste mit 5-Jahres-Frequenz die Veränderungen der Darstellungen der Nation in sechs ausgewählten und vergleichbaren Kapiteln über geschichtliche Ereignisse oder Abschnitte (bspw. Bauernaufstände, Beteiligung am 2. Weltkrieg, Nachkriegsstaatsgründung). Dabei zeigte sich, dass die japanische Geschichtsdarstellung wesentlich beständiger war und ist als in anderen Ländern. Internationale Trends wie der abnehmende Stellenwert von Nationalgeschichte zugunsten der Weltgeschichte oder derer subnationaler Gruppen im Zuge der sozialwissenschaftlichen Geschichtsschreibung lassen sich in den japanischen Schulbüchern kaum feststellen. Dies führt Julian Dierkes im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurück: zum einen die zentrale Rolle des Kultusministeriums, das praktisch der einzige Akteur mit Entscheidungsbefugnis über den Inhalt von Schulbüchern ist. Zum anderen das Selbstverständnis und die Interessen des Kultusministeriums als Verteidiger des Staates im jahrzehntelangen Kampf mit der bedeutendsten Lehrergewerkschaft Nikkyôso und der dominanten marxistischen Geschichtsschreibung.

Mit der Frage der Entscheidungsmacht über den Inhalt der Schulbücher, nämlich dem Zulassungsverfahren, befasste sich auch die vergleichend angelegte japanologische Abschlussarbeit von Susanne Petersen, die gerade ihre Magisterprüfung in Heidelberg ablegt. Für ihren Vortrag vor der Fachgruppe widmete sie sich der Frage, warum es trotz einer auch in Deutschland durchaus vorhandenenstaatlichen Kontrolle der Schulbücher dort nie zu einer vergleichbaren Protestbewegung und öffentlichen Diskussion darüber gekommen ist. Sie legte zunächst sehr übersichtlich das Zulassungsverfahren in Japan vor und nach der kürzlichen Reform dar und skizzierte die unterschiedlichen kritischen Positionen dazu. In der darauffolgenden Erläuterung des Verfahrens in Deutschland wurde klar, dass hier durch die föderale Struktur ein Vergleich nicht leicht fällt, da die Schulbuchzulassung aufgrund der Länderhoheit den einzelnen Bundesländern obliegt und dadurch stark differiert. Es lässt sich jedoch für alle Länder festhalten, dass sich auch die deutschen Behörden eine durchaus langwierige Prüfung und Korrektur(forderung)en vorbehalten. Wiewohl auch die Entscheidungen der Landesschulbuchkommissionen in einigen Fällen angegriffen worden sind, bestreiten die Kritiker das grundsätzliche Recht des Staates nicht, die in Schulbüchern fixierten Lehrinhalte zu kontrollieren. Allerdings ist die Pflicht, deren Neutralität und Über-einstimmung mit den Grundwerten der Verfassung zu prüfen, in Deutschland (anders als in Japan) im Gesetzestext festgeschreiben und damit parlamentarisch legitimiert. Susanne Petersen beantwortete ihre Ausgangsfrage des weiteren mit dem Hinweis auf eine größere Transparenz und die Partizipationsmöglichkeit von Eltern und Schülern an den entsprechenden Gremien. Zudem hat es in Deutschland – zumindest auf der nationalen Ebene – keine vergleichbar lange Regierungszeit einer Partei gegeben, der es hätte gelingen können, das Schulwesen so dauerhaft nach ihren Vorstellungen zu gestalten.

In der anschließenden angeregten Diskussion beider Vorträge wurde noch auf die unterschiedliche Bedeutung von Schulbüchern für die tatsächliche Praxis im Unterricht in Japan und Deutschland hingewiesen. Es ist davon auszugehen, dass sie an japanischen Schulen (zumindest in der Mittel- und vor allem der Oberschule) eine größere Rolle spielen als an deutschen. Aufgrund der in den Büchern behandelten immensen Stofffülle, die die Unterrichtsrahmenrichtlinien fordern, und die in den Kernfächern ja auch für die Aufnahmeprüfungen gelernt werden müssen, haben die Lehrer kaum eine Wahl als strikt anhand der Bücher vorzugehen. Kompetenter Mitdiskutant war Volker Fuhrt (Halle), der sich jüngst mit zwei Gruppierungen beschäftigt hat, die aus je eigenem Blickwinkel für neue Schulbücher streiten. Darunter ist auch die in den Vorträgen schon erwähnte neonationalistische Gruppe um Prof. Fujioka von der Tokyo-Universität, die mit dem „selbstquälerischen Geschichtsbild“ Schluss machen will und dafür plädiert, den Schülern ein Japanbild zu vermitteln, auf das sie stolz sein könnten.

Im zweiten Teil der Sitzung stand der Austausch über laufende Projekte, Veröffentlichungen und besuchte/bevorstehende Tagungen im Mittelpunkt. Im Anschluss wurde über den Beitrag der Fachgruppe zur nächsten Jahrestagung diskutiert, die unter dem Oberthema „Medien“ steht. Die Fachgruppe sprach sich dafür aus, neben Irene Langner, die über Internet-Lernen an japanischen und deutschen Schulen referieren wird, den Erziehungswissenschaftler Professor IMAI Yasuo von der Tokyo-Universität um einen Vortrag über den japanischen Diskussionsstand zu Medien und Pädagogik zu bitten.