Fachgruppentreffen Politik und Stadt- und Regionalforschung 2015

In diesem Jahr hielten die Fachgruppen „Politik“ sowie „Stadt- und Regionalforschung“ ein gemeinsames Treffen ab, das im Rahmen der Jahrestagung der Vereinigung für sozialwissenschaftliche Japanforschung am 22. November 2015 in Leipzig stattfand. Insgesamt wurden fünf laufende Projekte vorgestellt und unter den 25 TeilnehmerInnen lebhaft diskutiert. Der Schwerpunkt der Sitzung, die von Cornelia Reiher (Freie Universität Berlin) und Kerstin Lukner (Universität Duisburg-Essen) geleitet wurde, lag auf der „Revitalisierung ländlicher und urbaner Räume in Japan“.

Der erste Vortrag, gehalten von Florentine Koppenborg (Freie Universität Berlin), wandte sich zunächst jedoch der Reform der japanischen Atomaufsicht zu und trug den Titel „Nuclear Regulation Reform in Japan after 3/11: An Inconspicuous Transformation.“ Das Dissertationsprojekt untersucht den Prozess zur Etablierung der Nuclear Regulatory Agency (NRA) im Jahr 2012 und fragt, ob mit der NRA nun eine von Politik, Atomstrom-freundlicher Bürokratie (METI etc.) und Atomkonzernen weitgehend unabhängige Regulierungsbehörde geschaffen wurde. Dabei argumentiert Koppenborg, dass die Analyse der Struktur der neuen Regulierungsbehörde sowie ihrer Steuerungsmöglichkeiten von großer Bedeutung sei, da die japanische Regierung (LDP) in der Zukunft an der Nuklearenergie festhalten wolle. In ihrem Vortrag stellte sie neben der Fragestellung auch den Stand der Literatur, die Definitionen wichtiger Begriffe sowie verschiedene Aspekte der theoretischen Einbettung ihrer Untersuchung vor (historischer Institutionalismus etc.). Das Hauptargument ihrer Arbeit lautet, dass mit der NRA tatsächlich ein potentiell mächtiger Veto-Spieler geschaffen wurde, der aufgrund seiner institutionellen Position sowohl einflussreichen politischen Entscheidungsträgern wie auch den Lobby-starken Atomstromerzeugern die Stirn bieten könne. Mit der Einschätzung, dass die NRA damit auch „policy outcomes“ beeinflussen könne, setzt sich Koppenborg von der gängigen Meinung, nach der die Gründung der NRA nur wenig Wandel herbeigeführt habe, deutlich ab. Ihre Beurteilung basiert dabei u.a. auf Interviews mit Vertretern der NRA, die sie während einer Feldforschungsphase im Sommer 2015 durchgeführt hat.

Im zweiten Vortrag mit dem Titel „Was Gemeinschaften zusammenhält – Sozialer und materieller Wiederaufbau nach Katastrophen in Japan“ stellte Julia Gerster (Freie Universität Berlin) ihr Dissertationsprojekt vor. Darin beschäftigt sie sich mit den Fragen, wie eine Gemeinschaft zusammengehalten werden kann, wenn die materiellen Rahmenbedingungen durch eine Naturkatastrophe zerstört wurden. Am Beispiel von Yuriage, einem Stadtteil von Natori in der Präfektur Miyagi, thematisierte Gerster den Erhalt bzw. die Neukonstruktion von Gemein-schaft und sozialen Bindungen im Kontext des Wiederaufbaus nach der Dreifachkatastrophe im März 2011. Sie argumentierte, dass die Strategien der betroffenen Bevölkerung großen Einfluss auf den tatsächlich stattfindenden Wiederaufbau haben, der sich auch von Regierungsplänen unterscheiden kann. Aufbauend auf den Ergebnissen einer ersten Feldforschung in Behelfsunterkünften in Yuriage zeigte Gerster, dass bereits bei der Errichtung der Behelfsunterkünfte materielle Strategien zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft, wie sie vor der Katastrophe existierte, eine Rolle spielten. So wurden bei der Unterbringung Nachbarschaftsstrukturen berücksichtigt und Gebäude errichtet, die die Aufrechterhaltung und den Ausbau sozialer Kontakte durch ihre Bauweise unterstützten. Gerster nannte darüber hinaus soziale Strategien, die gemeinschaftsstiftend wirken, wie die Berufung auf eine (stilisierte) Vergangenheit und gemeinsame Leidenserfahrung, Konzepte von furusato und tsunagari und eine starke Abgrenzung zu den anderen Stadtteilen Natoris. Weiterhin stellte sie Feste und Veranstaltungen sowie verschiedene Praktiken vor, in denen der Verlust der Hinterbliebenen thematisiert wird. Gerster sprach ebenfalls über Probleme, die sich aus diesen spezifischen Strategien, Gemeinschaft zu konstruieren oder zu erhalten, ergeben können, wie z.B. eine Spaltung der Gemeinschaft oder die Exklusion von Männern von vielen Veranstaltungen (durch eine Konzentration auf die Durchführung von „Frauenaktivitäten“).

Der dritte Vortrag trug den Titel „Tokyo: Auf dem Weg zur Slow City? Strategien und Initiativen zur Entschleunigung urbaner Lebenszusammenhänge“. Evelyn Schulz und Michael Grieser (beide LMU München) präsentierten sowohl den konzeptuellen und theoretischen Rahmen als auch erste empirische Befunde eines Projekts, das im Rahmen der DFG-Forschergruppe Urbane Ethiken: Konflikte um gute und richtige städtische Lebensführung im 20. und 21. Jahr-hundert an der LMU bearbeitet wird. Michael Grieser war via skype aus Tokio zugeschaltet. Zentrale Frage des Projekts ist es, wie man in der Stadt leben soll. Nach einer Vorstellung von Konzepten wie Entschleunigung, slow city und transition town, berichtete Evelyn Schulz über deren Umsetzung in urbanen Kontexten in Japan. In Japan entwickelten sich Überlegungen zu einer partiellen Entschleunigung urbanen Lebens vor dem Hintergrund der ökonomischen Stagnation, die in den 1990er Jahren einsetzte. Als Gegenmodell zur funktionalen, auf Effizienz und Wachstum ausgerichteten Stadt entwickeln seit geraumer Zeit verschiedene Akteure Strategien und Leitbilder für eine post-industrielle Stadt, welche auf Nachhaltigkeit, geschlossene Wirtschaftskreisläufe und Stärkung der lokalen zwischenmenschlichen Beziehungen setzen. Wichtiges Beispiel hierfür sind Transition-Town-Initiativen, die im Fokus des letzten Teils des Vortrags standen. Diese haben ihren Ursprung in Großbritannien; in Japan wurden erste Initiativen 2008 gegründet, allerdings konnten sie sich zunächst nur schwer in urbanen Räumen etablieren. Heute verzeichnet das Transition Network Japan mehr als 50 Standorte, Tendenz steigend. 13 davon befinden sich im Großraum Tokyo. Michael Grieser stellte erste Eindrücke aus Beobachtungen und Interviews in zwei dieser transition towns vor.

Im vierten Vortrag mit dem Titel „Im Zentrum der Peripherie: Friktionen durch Revitalisierungsmaßnahmen unter den Bewohnern einer alternden Gemeinde in Akita“ präsentierte Johannes Wilhelm von der Universität Wien Feldforschungsergebnisse zu sogenannten „Revitalisierungshelfern“ (chi’iki okoshi kyōryoku-dan) und ihrem Wirken in der Gemeinde Kamikoani in der Präfektur Akita. Akita gehört derzeit zu den am stärksten „schrumpfenden“ Präfekturen Japans, wobei der Anteil der über 65-jährigen in der Gemeinde Kamikoani im Septem-ber 2014 mit 50,2% am höchsten war. In dieser Berg- und Forstgemeinde, die aus 26 Teilsiedlungen besteht, wurden im November 2009 erstmals in der Präfektur Akita zwei Männer als „Revitalisierungshelfer“ im Rahmen eines gleichnamigen Programm des Sōmushō in die entlegene Siedlung Yagisawa (2015: faktisch 12 Einwohner) entsandt. Nach einer Vorstellung der field site, Problemen schrumpfender und überalterter Kommunen und von Revitalisierungskonzepten, fokussierte Wilhelm auf die Interaktionen zwischen den (sehr betagten) lokalen Akteuren und den Revitalisierungshelfern. Wilhelm zeigte, dass Konflikte im Rahmen von Revitalisierungsmaßnahmen für ländliche Kommunen nicht nur zwischen Verwaltungen auf nationaler und lokaler Ebene, sondern auch auf der Mikroebene zwischen den Teilsiedlungen einer Gemeinde bzw. unter den Bewohnern und den „Neuankömmlingen“ zu beobachten sind. Grundlage für den Vortrag waren zwei mehrwöchige Feldaufenthalte in den Jahren 2014 und 2015, wobei seit 2009 alljährlich vorbereitende Aufenthalte in der Siedlung Yagisawa erfolgten.

Susanne Auerbach (Freie Universität Berlin) stellte im fünften Vortrag „Meeresindustrie, 6. Wirtschaftssektor und Facebook – Revitalisierungsmaßnahmen in Japans Küstenfischerei“ ihr Dissertationsprojekt vor. Zunächst skizzierte Auerbach Probleme der japanischen Küstenfischerei, die Entwicklung der Fischereipolitik und von Revitalisierungskonzepten sowie deren Wandel. Während erste Revitalisierungsinitiativen in den 1960er und 1970er Jahren Probleme wie die durch Umweltverschmutzung und Überfischung stark belasteten Fischbestände kaum lösen konnten, wurden seit den 1990er Jahren umfassende Maßnahmen eingeführt, welche die Fischerei in ihrer Gesamtheit (d.h. vom Fang, über Produktion bis hin zum Vertrieb) im Auge hatten. Insbesondere die Fischerdörfer rückten in den Mittelpunkt dieser Maßnahmen. Revitalisierung wurde und bleibt das Schlagwort in der Fischereipolitik. Konzepte wie „Entwicklung vielfältiger Möglichkeiten“ (tamenteki kinō no hakki), Revitalisierung der Fischerdörfer (gyo-son kassei-ka), 6. Wirtschaftssektor (6-ji sangyō-ka) und Meeresindustrie (umigyō) wurden formuliert und in diversen Förderprogrammen umgesetzt. Am Beispiel mehrerer Fischereikooperativen in Osaka diskutierte Auerbach anschließend wie über das Konzept „6. Wirtschaftssektor“ die Fischerei, die fischverarbeitende Industrie und die Nutzung lokaler Ressourcen, Traditionen und lokale Kultur zusammengebracht werden, um die Probleme der Küstenfischerei zu lösen. Nach einer Vorstellung der Entwicklung der Fischerei im Raum Osaka, nannte Auerbach konkrete Beispiele, wie Angelangebote für Freizeitfischer, Fischmärkte mit Direktverkauf, lokales und regionales Branding, die Entwicklung neuer Produkte und Vermarktung und Direktverkauf über das Internet.

Cornelia Reiher (Freie Universität Berlin) und Kerstin Lukner (Universität Duisburg-Essen)