Fachgruppensitzung Soziologie 1999
An der Fachgruppensitzung nahmen 14 Tagungsbesucher/innen teil. Die personelle Kontinuität zur vorjährigen Fachgruppensitzung war gering. Generell scheinen eher die angekündigten Vortragsthemen den Besuch zu motivieren als der Wunsch, kontinuierlich in einem soziologischen Fachkontext zu diskutieren (bzw. diesen überhaupt erst herzustellen).
Karen Shire eröffnete die Fachgruppensitzung mit einer Vorstellung des Projekts „Front-line (customer service and knowledge) workers“, das als Vergleichsstudie zwischen Japan, USA und Australien angelegt war und inzwischen unter dem Titel‘ On the Front Line-Organization of Work in the Information Economy‘ (Frenkel, Korczynski, Shire, Tam), Cornell University Press 1999, publiziert wurde. Projektthema war die beschreibende und vergleichende Analyse eines neuen Arbeitstyps (informationsbasierte, service(kunden)orientierte Wissensarbeit) mit dem begrifflichen und methodischen Instrumentarium der Industriesoziologie (Arbeitsinhalts- und Arbeitsorganisationsanalyse auf der Basis teilnehmender Beobachtung und einer Beschäftigten-Umfrage. Entgegen manch populären Erwartungen dominierte bei den untersuchten japanischen Fällen eine hierarchisch-bürokratische Arbeitsorganisation auch an hochkomplexen Arbeitsplätzen. Generell war die Teamkohäsion in Japan vergleichsweise schwach und die Vorgesetztenautorität stark ausgeprägt und Projektteams verfügten über weniger Autonomie als in den anderen Ländern. Auf das ‚Lernen am Arbeitsplatz‘ wirkte sich dies nachweisbar negativ aus. Starres Festhalten an geschlechtshierarchische Arbeitsteilung führt in Japan dazu, dass Frauen auch an weniger anspruchsvollen Service-Arbeitsplätzen, ihrer Hauptarbeitsdomäne, vergleichsweise seltener in Vorgesetztenpositionen gelangten als in den anderen Ländern. Karen Shires Fazit und das übereinstimmende Ergebnis der Diskussion lautete, dass Japan offensichtlich im Bereich informationsbasierter, kundenorientierter Wissensarbeit über kein wegweisendes Modell der Arbeitsorganisation verfügt.
Wolfram Manzenreiter hielt ein Kurzreferat zu denKonsequenzen der IuK-Offensive für den japanischen Arbeitsmarkt, die bis 2010 ca. 2,5 Mio. neue Stellen in Aussicht stellt. Schwerpunktthema waren die arbeitsrelevanten Gesetzesveränderungen in den 90er Jahren, die die Flexibilisierung der Anstellungsbedingungen forcieren. Die Implikationen der Revisionen und Zusätze zum Arbeitsstandard-, Teilzeitarbeits-, Leiharbeits-Pflegeurlaubs-, Chancengleich-heits- und Beschäftigungssicherungsgesetzes wurden erläutert und als widersprüchlicher Versuch von De- versus Re-Regulierung gedeutet. Die Diskussion kam zu dem Schluß, dass die veränderten rechtlichen Rahmenbedingungen die Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und -bezie-hungen reflektieren und vorantreiben, aber die Entwicklung nicht determinieren, so dass die Zukunft des japanischen Arbeitsmarkt-Modells ungewiß bleibt.
Die Projektgruppe Wolfgang Seifert – Takenaka Akira – Katja Stoll stellte ihren Entwurf einer vergleichenden Untersuchung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen in Japan und Deutschland vor. Ihr Hauptinteresse gilt der Verflechtung zwischen betrieblichen Arbeitnehmervertretungen und überbetrieblichen Gewerkschaftsorganisationen. Für Deutschland geht sie von der Generalannahme eines Bedeutungszuwachses der betrieblichen Beleg-schaftsvertretung im Sinne co-managerieller Mitwirkung aus und fragt, ob sich diese ‚Verbetrieblichung‘ ungeachtet aller japanisch-deutscher Unterschiede im institutionellen Makro-Rahmen nicht als Annäherung bzw. Konvergenz auf der betrieblichen Mikroebene interpretieren läßt. Geplant ist eine Vergleichsstudie von 12-15 mittelgroßen Unternehmen in Japan und Deutschland, in denen in ausführlichen Gesprächen mit Belegschaftsvertretung und Management der jeweilige Umgang mit der Gegenseite im Kontext von Strategiekonflikten (wie Personalreduktionen) erhoben werden soll. Die Diskussion problematisierte die unterstellte Auskunftsbereitschaft der betrieblichen Akteure und betonte die Schwierigkeit der Rekonstruktion ihres größtenteils verborgenen Bezie-hungsgeflechts und der darin enthaltenen Strukturen wechselseitiger Einflußnahme und Verabredung, deren explizit-vergleichende Erforschung jedoch trotz aller methodischen Probleme als vielversprechend eingeschätzt wurde.
Mit Carmen Schmidt wechselte das Thema zur politischen Soziologie. Sie stellte ein Kapitel ihrer Dissertation vor, die auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung der politischen Eliten, der Parteimitglieder und Wähler prüft, welche Dimensionen sozialer Ungleichheit und welche Strukturierungsmerkmale im politischen System Japans – insbesondere im Parteiensystem, konzentriert auf die Parteien LDP und KPJ, – relevant sind. Dies ermöglicht Rückschlüsse darauf, wie sich innergesellschaftliche Konfliktlinien in innerparteiliche Strukturen transformieren. Dem vorgestellten Kapitel ‚Eliterekrutierung‘ lag eine Primäruntersuchung auf der Basis des ‚Seikan yôran‘ (Seisaku jihôsha 1999) zugrunde. Carmen Schmidt konnte zeigen, welche unerwartet gewichtige Rolle Verwandtschaftsbeziehungen für eine LPD-Karriere spielen: Dem Typus des „Erben-Politikers“ (zweite, dritte und weiter zurückreichende Politiker-Generation) sind in Japan über 39 Prozent der LPD-Parlamentarier zuzurechnen, bei den Kabinettsmitgliedern sogar über 46 Prozent. Diskussionspunkt waren die durch vergleichsweise unaufwendige Analyse öffentlich zugänglicher Daten herausgearbeiteten Mängel politisch-demokratischer Repräsentation in Japan und ihr Pendant in anderen Industrieländern.
Wie in früheren Fachgruppensitzungen blieb für eine Diskussion der Weiterarbeitsperspektiven leider wieder zuwenig Zeit. Es schien sich jedoch der Konsens abzuzeichnen, dass es primäres Anliegen der Fachgruppe Soziologie sein muß, japanbezogenes Wissen in die Mutterdisziplin im Sinne der Ausdifferenzierung und Schärfung des soziologisch-begrifflichen Instrumentariums rückzuvermitteln. Deshalb sollten Rezensionen japanbezogener Forschungsliteratur vorzugsweise in soziologischen Fachzeitschriften erfolgen.