Fachgruppensitzung Soziologie und Sozialanthropologie 2004

Eröffnung der Fachgruppensitzung

Prof. Karen Shire begrüßte am 20. November 2004 um 16 Uhr die Anwesenden der Fachgruppe Soziologie und Sozialanthropologie in Berlin auch im Namen der aus Krankheitsgründen Abwesenden Co-Koordinatorin Dr. Ingrid Getreuer-Kargl. Nach einer Vorstellungsrunde präsentierten Petra Röska (Universität Wien) und Dr. Christian Tagsold (Universität Halle-Wittenberg) ihre Forschungsprojekte.

Präsentation des Promotionsvorhabens von Petra Röska

Seit Oktober 2004 bereitet Petra Röska ihre Dissertation zum Thema „Karrierenetzwerke von Frauen in Japan“ vor, die sich mit der Frage befasst, welche Rolle Karrierenetzwerke für den Berufsaufstieg von Frauen in japanischen Großunternehmen spielen.
In dieser Arbeit wird der Begriff „Karriere“ als eine gewisse Aufwärtsbewegung oder Aufstiegsmotivation verstanden, die zu einer Beförderung in der Unternehmenshierarchie oder zu einer unternehmerischen Selbständigkeit führen soll. Mit dem Begriff „Netzwerk“ wird die gegenseitige berufliche Unterstützung definiert, mit der sich Frauen in ihrer Karriere motivieren und weiterhelfen.

Trotz des Gleichstellungsgesetzes von 1986 bzw. 1999 gibt es in Japan wenige Frauen in Führungspositionen. Ist die Karrieresituation von Frauen in Japan noch immer schlecht? Können Karrierenetzwerke für den Aufstieg von Frauen eine Rolle spielen? Über die Situation der Karrierenetzwerke von Frauen in Japan ist bisher nur wenig bekannt. Daher soll neben der Beleuchtung der Frage wie Netzwerke von Frauen und Männern in Japan aussehen und wie der Zugang zu Karrierenetzwerken charakterisiert ist, untersucht werden, wie Netzwerke von Frauen (anders) funktionieren (als die von Männern) und wie sich das Selbstverständnis von Frauen in diesen Netzwerken darstellt. Durch ein qualitatives Vorgehen in Form von narrativen Interviews mit Karrierefrauen, die in Netzwerken tätig sind, soll die Vorgehensweise der Frauen in den Karrierenetzwerken analysiert, sowie ihre Motive, Probleme und Handlungsstrategien aufgezeigt werden. In der anschließenden Diskussion wurde das empirische Design diskutiert.

Präsentation des Forschungsvorhabens von Dr. Christian Tagsold

Im Anschluss präsentierte Christian Tagsold Ergebnisse seiner in Zusammenarbeit mit Prof. Shingo Shimada vorgenommenen Untersuchung zum Thema „Veränderung von Öffentlichkeit und Privatheit durch die Pflegeversicherung in Deutschland und in Japan“. Die Bearbeitung der Fragestellung im Rahmen des gesellschaftlichen Diskurses ermöglichte die Beleuchtung der Bedeutung des kulturellen Kontextes in Bezug auf die Pflegeversicherung in den beiden Ländern. Während es die Pflegeversicherung in Deutschland bereits seit 1995 gibt, wurde sie in Japan erst im Jahre 2000 nach deutschem Vorbild geschaffen.

Die Einführung der Pflegeversicherung in Deutschland und Japan wurde am Beispiel der Städte Nürnberg und Fukuoka untersucht. In Zusammenarbeit mit der Kenritsu Daigaku Fukuoka wurde in zwei 4-monatigen Forschungsphasen in Japan teilnehmende Beobachtungen in Group Homes und anderen Einrichtungen durchgeführt, Interviews mit Experten geführt und eine quantitative Erhebung durchgeführt. Mit den selben Methoden wurde in Nürnberg parallel geforscht. So wurde es möglich, kulturvergleichend vorzugehen.

Die Ergebnisse der Forschung haben zur These geführt, dass sich im Bewusstsein in Deutschland, wo Pflege jetzt bezahlt wird, wenig im Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit gewandelt hat. Hier ist die Einführung der Pflegeversicherung in Anlehnung an den Gerechtigkeitsgedanken der Wohlfahrtsstaatlichkeit erfolgt. So gilt die Pflegeversicherung auch als fünfte Säule des Wohlfahrtsstaates und behindert nicht die technische Fortsetzung des alten Systems.

Anders als in Deutschland über die Wohlfahrtsstaatlichkeit wird die kollektive Identität in Japan über das Konzept der Nation und der kulturellen Homogenität definiert. In Japan wird das Pflegeversicherungsgesetz als Hebel zur neuen Vergesellschaftung und als Aushebelung des zentralstaatlichen Modells betrachtet, da Lösungen zunehmend auf lokaler Ebene gesucht werden. Versicherungsträger der neuen Pflegeversicherung in Japan sind Städte und Gemeinden. Problematisch ist, dass die Bürger in ländlichen Gemeinden mit einem hohen Altenanteil hohe Versicherungsbeiträge bezahlen müssen. Der staatliche Ausgleichsfond ist mit relativ geringen finanziellen Mitteln ausgestattet. Einige Kommunen, so auch in der Präfektur Fukuoka, haben zu größeren Versicherungsverbänden zusammengeschlossen. Dies geschah jedoch aus bürokratischen Gründen, nicht um die von deutscher Seite empfundene Gerechtigkeitslücke auszugleichen. Diese wurde in Japan kaum wahrgenommen und diskutiert. Der Impuls der Pflegeversicherung hat zur Gründung einer Vielzahl von altenorientierten Non-Profit-Organisationen (NPO) geführt. Dieser Prozess wurde durch das neue NPO Gesetz 1998 stimuliert.

Als weiteres Beispiel für die Bedeutung von kulturellen Kontexten bei der Pflegeversicherung sind Wohnformen betrachtet worden. In Japan wird das Wohnen als gesamtgesellschaftliche Einheit gesehen. Die Bewohner sollen nicht in Pflegeheimen oder sonstigen künstlichen Umgebungen sondern in alter Gewohnheit leben und sterben, um am „machi“-Prinzip teilhaben zu können. In Deutschland hingegen wird hinsichtlich von Wohnformen vor allem auf die Lösung technischer Probleme durch Spezialisten Wert gelegt.

Zukunftsdiskussion

Zum Abschluss wurde kurz über die Zukunft der Fachgruppe diskutiert. Dabei wurden hervorgehoben, dass die Fachgruppe ein Ort für Präsentationen von Diplom- und Doktorarbeiten bleiben solle. Weiterhin wurde es als wünschenswert erachtet im Rahmen der Fachgruppensitzung wichtige Theoriekonzepte, die in Verbindung mit der jeweiligen VSJF-Tagung stehen, zu behandeln. Für die VSJF-Tagung 2005 „Stadt-Räume“ ist die Einladung eines Experten im diesem Bereich angedacht worden.