Fachgruppensitzung Soziologie und Sozialanthropologie 2010

Nach einer kurzen Begrüßung durch die Sprecher der Fachgruppe und einer Vorstellungsrunde wurden dieses Jahr fünf Forschungsprojekte präsentiert und diskutiert. Als erste Referentinnen stellten Barbara Holthus und Hiromi Tanaka-Naji vom Deutschen Institut für Japanstudien in Tokyo ihr Forschungsprojekt zum subjektiven Wohlbefinden von Eltern mit Kindern im Alter von 0 bis 6 Jahren vor, bei welchem eine repräsentative Umfrage in Japan in Vorbereitung ist. Vorerst skizzierten die beiden Referentinnen den Stand der Forschung und die Schwachpunkte von bestehenden internationalen und japanischen Studien und Umfragen zum Wohlbefinden von Eltern in Japan, welche mit der neuen, umfassenden Umfrage behoben werden sollen. Dann wurden die Kooperationspartner in Deutschland und deren Umfrage, der Ravensburger Elternsurvey, vorgestellt. Die Umfrage in Deutschland wurde bereits im Jahre 2009 durchgeführt, so dass auch erste Auswertungsergebnisse der deutschen Umfrage vorgestellt werden konnten (vgl. Bundesfamilienministerium, Das Wohlbefinden der Eltern: Auszüge aus dem Ravensburger Elternsurvey, Monitor Familienforschung – Beiträge aus Forschung, Statistik und Familienpolitik, Nr. 22, Juni 2010). Anschließend stellten die beiden Referentinnen den Stand der Vorbereitung der eigenen Umfrage in Japan und die nächsten Schritte vor. In der Diskussion standen methodische Punkte im Vordergrund. Hierbei wurden vor allem die Probleme erörtert, welche sich aus der Anpassung der deutschen Umfrage auf japanische Besonderheiten unter gleichzeitiger Beibehaltung der Vergleichbarkeit mit der deutschen Umfrage ergeben.

Celia Spoden von der Universität Düsseldorf referierte anschließend zu Entscheidungsfindungen bei chronisch Kranken bzgl. des eigenen Lebensendes in Japan. Dieses Thema ist ein Teil ihres Dissertationsprojektes. Vorerst erfolge eine kurze Übersicht zum Literatur- und Forschungsstand. Darauf aufbauend wurde als neuer Beitrag in der Forschung durch die eigene Arbeit die Analyse der Perspektive der Betroffenen selbst betont. Anschließend wurden die juristischen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen in Japan im Gegensatz zu Deutschland dargestellt. Der Fall von Herrn Y, welcher an einer degenerativen und nicht heilbaren Krankheit (Amyotrophe Lateralsklerose, ALS) erkrankt ist, wurde dann eingehend vorgestellt. Hierbei wurde in der Präsentation auf die Ergebnisse von qualitativen Interviews mit Herrn Y zurückgegriffen. Bei der Darstellung des Fallbeispiels von Herr Y wurde auch auf das soziale Umfeld von Herrn Y eingegangen und erörtert, wie dieses die Überlegungen und Entscheidungsfindung von Herrn Y beeinflusst. In der Diskussion wurden Fragen zur Bedeutung von Genderrollen bei solchen Entscheidungsfindungen in Japan aufgegriffen. Auch wurde die Frage aufgeworfen, ob es sich angesichts der Bedeutung von sozialen Faktoren in der Entscheidungsfindung anbietet, neben den Erkrankten selbst, jeweils auch Familienangehörige und andere Personen aus dem sozialen Umfeld zu interviewen.

Nach der Kaffeepause stellte Oliver E. Kühne (Universität Trier) erste Überlegungen zu seinem Dissertationsprojekt vor, in dem er Anregungen Jürgen Osterhammels und derPpostcolonial Studies auf die „interne Kolonie“ Okinawas und der Ryukyu-Inseln anwenden und die Möglichkeiten einer vom japanischen Dominanzdiskurs und japanischen Stereotypen freien Selbstidentifizierung eruieren möchte. Die Gegenüberstellung der yuta (weibliche Schamaninnen mit angeborenen Fähigkeiten) und der utaki (kaum modifizierte Naturstätten) mit Shinto-Priestern und Schreingebäuden relativiert die Subsumierung der Insel-Religion als Ryukyu Shinto. Auch in dem wilden, mit Okinawa-Klischees überladenen Kinofilm Hoteru Haibisukasu von 2002 und Matayoshi Eikis Roman Buta no mukuivon 1996 spielen Schamaninnen und Seelenwanderungen eine Rolle. Eine alle diese Einzelphänomene integrierende Gesamtschau wird laut Kühne vom Vergleich mit den native Americans und ihrer künstlerisch-literarischen Selbst- und Fremddarstellung profitieren können.

Rita Németh (Universität Bonn) berichtete im vierten Beitrag von einem gerade beendeten Forschungsaufenthalt in Japan für ihr Dissertationsprojekt zum japanischen Bogenschießen (kyūdō). Sie geht hierbei vom Konzept des Kulturtransfers aus der Kulturgeschichtsforschung aus, möchte aber die auch schon von anderen kritisierte einseitige Konzentration auf die Rezipienten vermeiden. Nach einer kulturhistorischen Darstellung des japanischen Bogenschießens schilderte sie die moderne Vereinheitlichung unter einem Dachverband seit den 1930er Jahren und die Rezeption von Eugen Herrigels bekanntem Werk „Zen in der Kunst des Bogenschießens” (1948), die Deutschland die seit den 1960er Jahren aufgebaute, größte kyūdō-Gemeinde außerhalb Japans bescherte. Der Vergleich Deutschlands und Japans soll im Zentrum der Arbeit stehen und anhand der in Japan geführten Expertengespräche, der Selbstdarstellung in den Verbandszeitschriften, der sich im Laufe der Zeit wandelnden Prüfungsfragen und ähnlicher Materialien vorangetrieben werden. Auch die Frage nach der nationalistischen Aufladung des kyūdō einst und jetzt harrt der Durchdringung.

Wolfram Manzenreiter (Universität Wien) war in Japans Velodromen „auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ und hat dort Feldforschung unter den keirin-Anhängern betrieben. Dieser Radsport mit begleitender Wetttätigkeit (odervice versa) erlebte Mitte der 1970er Jahre seinen Höhepunkt, seither aber einen auch durch die Bubble kaum gebremsten Niedergang, der sich auch im fortgeschrittenen Alter der bis auf die Kassiererinnen an den Wettschaltern komplett männlichen Klientel niederschlägt. Dennoch gibt es in fast allen japanischen Präfekturen und Großstädten Velodrome, die die von professionellen Tippverkäufern angestachelte, aber nur selten – und auch beim Ethnographen nicht – eingelöste Hoffnung auf anstrengungslosen Reichtum am Leben hält. Manzenreiter präsentierte erste Überlegungen zur Analyse des Renn- und Wettgeschehens, die etwa bei der Unterscheidung der sozialen Räume und der jeweiligen Zugangsmöglichkeiten ansetzen könnten, und skizzierte die politische Ökonomie des legalen japanischen Glücksspiels, das jährlich mehr als 2000 Euro pro Kopf umsetzt.

Abschließend informierten die beiden Sprecher der Fachgruppe, dass sie nach fünf Jahren die Zeit für gekommen sehen, ihr Amt an neue Kräfte weiter zu reichen. Ab dem nächsten Jahr werden Carola Hommerich als Soziologin und Susanne Klien als Sozialanthropologin, beide vom Deutschen Institut für Japanstudien in Tokyo, die Fachgruppe Soziologie und Sozialanthropologie als Sprecherinnen leiten.

PD Dr. Christoph Brumann (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle)
Prof. Dr. David Chiavacci (Universität Zürich)