Fachgruppensitzung Stadt- und Regionalforschung 2001
Zwei Themen kennzeichneten das Treffen der Fachgruppe „Stadt- und Regionalforschung“: Erstens Bevölkerungsgeographie/Demographie, zweitensInfrastrukturpolitik, Landesentwicklung, Nachhaltigkeit.
Mit seinem Vortrag über „Räumliche Unterschiede im Ablauf des ,Zweiten Demographischen Übergangs’: Japan und andere Industriegesellschaften im Vergleich“ stellte Ralf Lützeler (Bonn) einen Teilaspekt des an der Forschungsstelle Modernes Japan der Universität Bonn begonnenen Forschungsprojektes „Japan auf dem Weg in eine neue Moderne“ vor.
Der erneute Geburtenrückgang, wie man ihn seit einigen Jahrzehnten in allen Industriestaaten verfolgen kann, hat in den Bevölkerungswissenschaften zu einer Revision des bekannten Modells des Demographischen Übergangs geführt. Man spricht nunmehr von einem „zweiten Übergang“, der allgemein mit einer „zunehmenden Individualisierung der Frau“ bzw. einem Wandel hin zu Selbstverwirklichungswerten begründet wird. Solche globalen Thesen erklären aber nicht die z.T. markanten Unterschiede, die zwischen einzelnen Gesellschaften bestehen, so auch nicht die Tatsache, dass sich die Geburtenrate in einigen Ländern (z.B. in Skandinavien und den USA) wieder leicht erholt hat, in anderen jedoch nicht.
In jüngster Zeit sind jedoch Theorieansätze entwickelt worden, die hierauf eine Antwort geben könnten. Hierbei wird für einen Wiederanstieg der Geburtenrate die Herstellung von „Geschlechtergerechtigkeit“ (gender equity) in der Familie als grundlegend angesehen. Familismus hingegen fördere niedrige Geburtenraten, wobei Lützeler zwei Spielarten unterschied: Zum einen einen „mentalen Familismus“ in der Bevölkerung selbst, in dessen Kontext z.B. junge Erwachsene oft erst spät das elterliche Heim verlassen und dadurch kaum mehr das Führen einer stabilen Partnerschaft erlernen. Der Referent wies auch auf das Argument hin, dass die mit mentalem Familismus einhergehende Kindzentriertheit von Partnerschaften hohe Investitionen in Kinder begünstige und damit eine Zahl von mehr als zwei Kindern zu teuer mache. Oft, aber nicht immer hiermit gekoppelt sei ein „struktureller Familismus“: Hierbei begünstigen eher historisch bedingte Strukturen des Arbeitsmarktes bzw. des Systems der sozialen Sicherung eine niedrige Fertilität. In „strukturell familistischen“ Gesellschaften gibt es oft hohe Transferleistungen für Einverdienerfamilien mit Kindern, aber eine schlecht ausgebaute öffentliche Pflegeinfrastruktur für Alte und Kleinkinder. Frauen geraten hierbei in eine Situation, wo sie sich entweder für Familie oder Beruf entscheiden müssen.
Anhand verschiedener Indikatoren des Heirats- und Gebärverhaltens von zwischen 1940 und 1960 geborenen Frauen konnte der Referent am Beispiel der Länder Japan, USA, Norwegen, Italien und Deutschland (alte Bundesländer) die Anwendbarkeit dieser Ansätze zur Erklärung von Unterschieden in der Geburtenrate belegen. Dabei lassen sich die niedrigen Geburtenraten Japans und Italiens auf das Vorhandensein sowohl von strukturellem wie mentalem Familismus in der Gesellschaft zurückführen. In beiden Ländern gibt es zudem das Phänomen spät das elterliche Heim verlassender Singles, das aber interessanterweise nur in Japan als „parasite single“-Phänomen gewertet wird. Im Gegensatz dazu beruht die niedrige Geburtenrate Westdeutschlands ausschließlich auf „strukturellem Familismus“. Anders als in den beiden vorhergenannten Ländern ist der Anteil kinderloser Ehen in Deutschland sehr hoch, und auch der Bedeutungsverlust der Ehe hat hier früher eingesetzt, was nicht eben auf eine Dominanz von familistischen Einstellungen innerhalb der Bevölkerung schließen lässt. Stattdessen hat sich während der letzten Jahrzehnte eine starke gesellschaftliche Polarisierung in einen Familien-mit-Kindern-Sektor und einen Sektor ohne Kinder entwickelt. Erste Anzeichen für eine solche Polarisierung zeigen sich auch in Japan.
Abschließend ging Lützeler am Beispiel Japan noch kurz auf die Gründe für die räumliche Ausbreitung einer verminderten Heiratsneigung als dem wichtigsten Aspekt des jüngeren Geburtenrückgangs ein. Anhand einer quantitativ-statistischen Analyse auf Basis der 47 Präfekturen ließ sich zeigen, dass sich das veränderte Heiratsverhalten seit den späten 1970er Jahren diffusionsartig von den Metropolen Ôsaka und vor allem Tôkyô entlang der Städtebänder in den ländlichen Raum hinein ausbreitet. Weiterhin stellte der Referent statistische Zusammenhänge mit einer zunehmenden außerhäuslichen Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie einer Verminderung familienzentrierter Einstellungen heraus.
Im zweiten Teil des Programms stellten Winfried Flüchter und Thomas Feldhoff (Duisburg) zwei aktuelle Bücher zum Themenfeld Infrastrukturpolitik, Landesentwicklung und Nachhaltigkeit in Japan vor:
Poniatowski, Birgit: Infrastrukturpolitik in Japan: Politische Entscheidungsfindung zwischen regionalen, sektoralen und gesamtstaatlichen Interessen. München: Iudicium-Verlag, 2001 (= Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien der Philipp Franz von Siebold Stiftung; Bd. 31). ISBN 3-89129-842-0, 417 S., geb., DM 98,-
Den Ausgangspunkt dieser Dissertationsschrift (Japanologie, Politikwissenschaft) bildet die Feststellung, dass die Mittel, die der japanische Staat in den öffentlichen Infrastrukturbau investiert, im Vergleich zu anderen Industrienationen außerordentlich hoch sind. Die Autorin hat sich angesichts der Bedeutung dieser Investitionen das Ziel gesetzt, die auf die Höhe und Verteilung der Mittel Einfluss nehmenden Akteure zu identifizieren und deren Interessen und Handlungsstrategien zu analysieren. Sie bedient sich dabei aus politikwissenschaftlicher Sicht der Methode der Politikfeldanalyse – Politikfeld „Infrastrukturausbau“ – und einer Mehrebenen-Perspektive, die die relevanten Mechanismen politischer Entscheidungsfindung auf zentralstaatlicher, präfekturaler und kommunaler Ebene beleuchtet. Methodisch basiert die Arbeit auf einer literaturgestützten Sekundäranalyse sowie auf Primärerhebungen in Form von Tiefeninterviews, die mit relevanten Akteuren in japanischer Sprache geführt wurden. Das Buch stellt insgesamt einen aufschlussreichen Beitrag zum Verständnis der Macht- und Entscheidungsstrukturen des japanischen Staates dar. Ein derart umfassendes Werk zur raumrelevanten Infrastrukturpolitik liegt nach unserer Kenntnis in einer westlichen Sprache bislang nicht vor. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist die Feststellung, dass das Entscheidungssystem im Politikfeld Infrastrukturausbau auf allen Ebenen wesentlich von der Exekutive geprägt ist, während den Parlamenten bei der Wahrnehmung ihrer Kontrollfunktion enge Grenzen gesteckt sind.
Merkwürdigerweise findet die Rolle der Wirtschaft, die neben der Politik und der Bürokratie den dritten Pol der „Advocacy-Koalitionen“ bildet, in dieser Untersuchung kaum Berücksichtigung, wird die Rolle der Bauwirtschaft als entscheidender Profiteur japanischer Infrastrukturpolitik nicht deutlich, kommt vor dem Hintergrund von Baulobbytätigkeit und Korruption die in der Politikwissenschaft weitverbreitete (jedoch undifferenzierte und nicht bewiesene) These von der Auflösung des „Eisernen Dreiecks“ leider nicht auf den Prüfstand.
McCormack, Gavan: The Emptiness of Japanese Affluence. Revised Edition. Armonk; London: M.E. Sharpe ²2001 (11996). Photographien, Abbildungen, Tabellen, Index. 312 S. ISBN 0-7656-0768-9 (Paperback) (= Japan in the Modern World)
Der australische Japanologe und Historiker zielt mit seinem Werk auf eine kritische Bestandsaufnahme der Entwicklung der japanischen Gesellschaft in der Nachkriegszeit ab. Der besondere Reiz des Buches liegt in seiner thematischen Breite, die eine Leserschaft unterschiedlicher mit Japan befasster Disziplinen – auch der Geographie – anspricht. Zentrales Thema ist das zutiefst widersprüchliche Selbstverständnis „der Japaner“, die – so die zentrale These des Autors – in einer moralisch-ethisch weitgehend ausgehöhlten Überflussgesellschaft leben. Von besonderem Interesse für unsere Fachgruppe ist der erste Teil des Buches, der unter der Überschrift „Politische Ökonomie“ steht. Hier werden mit dem „Baustaat“, dem „Freizeitstaat“ und dem „Agrarstaat“ drei zentrale, zum Teil besonders kontrovers diskutierte raumrelevante Problemfelder der modernen Landesentwicklung Japans behandelt. Besonderen Wert legt der Autor dabei auf die Interdependenz der Strukturen und Prozesse auf der supranationalen, nationalen und subnationalen Maßstabsebene. Im Rahmen seiner kenntnisreichen Analysen spart McCormack nicht mit Kritik, beispielweise wenn es um die Auswüchse des „Eisernen Dreiecks“ geht. Versuche allerdings, ihn in die Nähe des „Japan-bashing“ rücken zu wollen, täten dem Autor Unrecht. Methodisch basiert seine Arbeit nämlich fast ausschließlich auf der Auswertung originär japanischer Quellen und dem fachlichen Diskurs mit japanischen Wissenschaftlern und Vertretern der gesellschaftlichen Eliten. Dies macht deutlich, dass viele der skizzierten Problemfelder längst auch in Japan kontrovers diskutiert und von japanischen Experten handfest kritisiert werden.
Übertrieben wirkt mitunter der moralisierende Ton, insbesondere im Vorwort zur vorliegenden zweiten Auflage, deren Vermerk „revised edition“ täuscht: ihr Text ist vollkommen identisch mit dem der ersten Ausgabe von 1996.
Beide Monographien liefern zahlreiche inhaltlich und konzeptionell anregende Akzente für die geographische Stadt- und Regionalforschung. Ausführliche Rezensionen erscheinen demnächst in der Fachzeitschrift „Erdkunde“.
Im Anschluss daran stellten Winfried Flüchter und Thomas Feldhoff ein neues DFG-Projekt vor:
„Japan: Raumwirksame Baulobbytätigkeit im Spannungsfeld zwischen systemischer Stabilität und nachhaltiger Regionalentwicklung“
„Japan AG“, „Baulobbytätigkeit“ und „Nachhaltigkeit“ sind die Reizwörter dieses in der Politischen Geographie angesiedelten Forschungsvorhabens. Es zielt darauf ab, das Problem der Stabilität des „Systems Japan“ im Hinblick auf eine nachhaltige Regionalentwicklung institutionentheoretisch fruchtbar zu machen und auf mehreren räumlichen Maßstabsebenen – national, regional, lokal – empirisch zu überprüfen. Im Brennpunkt steht das „Eiserne Dreieck“, das Zusammenspiel aus Ministerialbürokratie, Politik und Wirtschaft, Muster des „Systems Japan“, lange Symbol der wirtschaftlichen Prosperität des Landes, längst aber auch der Ineffizienz des Systems. Dessen Stabilität erscheint angesichts struktureller Reformmaßnahmen, unbewältigter Krisen und des Anpassungsdrucks der Globalisierung zweifelhaft. Das „Eiserne Dreieck“ wird am Beispiel der Bauwirtschaft und deren Lobbytätigkeit operationalisiert. Damit verbindet sich die Hypothese, dass das „System Japan“, dem in verschiedener Hinsicht zurecht Brüchigkeit bescheinigt wird, im Fall problembelasteter Branchen durchaus funktioniert. Dies gilt insbesondere für das Baugewerbe, das wie kein anderes in Japan die gleichgerichteten Interessen und den informellen Zusammenschluss zentraler Akteure verkörpert. Seine Existenzgrundlage „dangô“ – kartellartige Bieterabsprachen in öffentlichen Bauausschüssen – ist eine weltweit, in Japan allerdings besonders lukrative Einkommenserzielung zum Nutzen der unmittelbar beteiligten Akteure. Mit deren Macht- bzw. Netzwerkstrukturen innerhalb und außerhalb des „Eisernen Dreiecks“ beschäftigt sich die Analyse zunächst auf der nationalstaatlichen Ebene. Die Diskussion um die Stabilität des Systems und seine Wirkung auf „nachhaltige“ Regionalentwicklung erfordert die Verknüpfung mit der Präfektur- bzw. der Gemeindeebene. Japanische Baulobbytätigkeit soll im Spannungsfeld zwischen „top-down“- und „bottom-up“-Strategien kritisch hinterfragt werden – im Kontext von Rahmenbedingungen, Anreizstrukturen, Glaubwürdigkeit und Pfadabhängigkeit der komplexen Handlungssysteme, unter Aspekten raumrelevanter Strukturen und Prozesse.
Das Projekt ist Teil des interdisziplinären Forschungsvorhabens „Ostasien zwischen strukturellem Wandel und systemischer Stabilität“ am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Duisburg. Daran sind sechs Wissenschaftler(innen) aus vier Disziplinen beteiligt. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geographie-Projekt ist Thomas Feldhoff.
Der im Programm angekündigte Vortrag von Winfried Flüchter zum Thema „Tôkyô: Verlagerung von Hauptstadtfunktionen unter Aspekten von Dezentralisierung und Infrastrukturpolitik“ musste wegen Zeitknappheit ausfallen.
Das Programm endete in der Fachgruppe Politik mit dem gemeinsam besuchten Schlussvortrag von ANJA OSIANDER (Dresden): „Überlegungen zu einem online-textbook für eine Einführung in das politische System Japans“ (Bericht über ein Projekt an der TU Dresden, siehe Fachgruppe Politik).
Bericht: Thomas Feldhoff, Winfried Flüchter, Ralph Lützeler