Fachgruppensitzung Stadt- und Regionalforschung 2007

Im Rahmen der Jahrestagung der VSJF widmete sich die diesjährige Fachgruppensitzung dem Thema „Stadt- und Regionalentwicklung in Japan zwischen Wachstum und Schrumpfung“. Thomas Feldhoff (Duisburg-Essen) begrüßte die Teilnehmer und führte kurz in das Thema ein. Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung sind in Deutschland und Japan die zentralen Herausforderungen des demographischen Wandels. Aufgrund extrem niedriger Geburtenraten, hoher Lebenserwartungen und nur geringer Zuwanderung ist Japan die weltweit am stärksten alternde und dabei auch schrumpfende Gesellschaft – im Jahr 2030 (2050) werden mittleren Prognosen zufolge bereits 31,8 % (39,6 %) der Japaner 65 Jahre und älter sein. Insbesondere in den ländlich peripheren und altindustrialisierten Regionen werden als Ergebnis der nachkriegszeitlichen Wirtschafts- und Raumentwicklung diese Tendenzen, die langfristig dem gesamten Land bevorstehen, bereits heute vorweggenommen. Dabei geht es nicht nur um zunehmende Alterung und Schrumpfung, sondern auch um soziale Unausgewogenheiten und geschlechtsspezifische Disparitäten (Feminisierung). Das heißt, verschiedene demographische Phänomene überlagern sich und verstärken den Prozess einer schleichenden regionalen Ausdifferenzierung. Eine wesentliche Folge ist das Problem der Aufrechterhaltung einer nachhaltigen Infrastruktur, weil die Tragfähigkeiten zum Teil dramatisch abnehmen. Japan gilt somit als Vorreiter einer Entwicklung, von der wir im Erfahrungsaustausch lernen können: lernen, die Situation in Deutschland bzw. Mitteleuropa nicht isoliert zu betrachten, die eigenen Sichtweisen und (Vor-?)Urteile zu relativieren und neue Einsichten in Problemlösungsansätze zu gewinnen. Sowohl in Japan als auch in Deutschland wirft der demographische Wandel nämlich je nach geographischer Lage ganz unterschiedliche Probleme auf, zu deren Entschärfung je nach Standort recht unterschiedliche Strategien denkbar sind. Da räumliche Schrumpfungsprozesse ein kumulativ sektorenübergreifend wirkendes und sich selbst verstärkendes Phänomen sind, ist es für die Stadt- und Raumplanung in jedem Falle schwierig, einer einmal in Gang gesetzten Abwärtsspirale entgegenzuwirken.

Als erste Referentin sprach Cornelia Reiher, Universität Leipzig, zum Thema „Heisei Daigappei und lokale Identität: Das Beispiel Arita-chô“. Der Vortrag basierte auf ihrem Dissertationsprojekt „Globalisierungsdiskurse in Japan – Aritas Keramikindustrie in globalen Kontexten“, welches sie im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Bruchzonen der Globalisierung“ an der Universität Leipzig unter der Leitung von Prof. Dr. Steffi Richter bearbeitet. Darin untersucht Cornelia Reiher, wo sich verschiedene Akteure aus Arita in einer globalisierten Welt verorten und welche globalen Einflüsse sie auf sich und ihre Umwelt einwirken sehen. Der Fokus ihrer Arbeit liegt auf Prozessen der (Neu-) Konstituierung von Identitäten als Strategien zur Überwindung der Marginalisierung Aritas und seiner Produkte in regionalen, nationalen und globalen Bezugssystemen. An der Schnittstelle von Politik- und Kulturwissenschaften soll so ein Beitrag zur Erforschung von Identitätspolitik in ländlichen Gebieten vor dem Hintergrund der Heisei Daigappei-Gebietsreform geleistet werden. Arita-chô ist eine kleine Stadt in der Präfektur Saga im Nordwesten Kyûshûs, die sich als „Heimat des japanischen Porzellans“ versteht. Im 17. und späten 19. Jh. wurde in Arita Porzellan für den weltweiten Handel produziert. Heute steht die Stadt aufgrund der stetig sinkenden Nachfrage nach Arita-Porzellan großen ökonomischen und sozialen Problemen gegenüber. Vor diesem Hintergrund versuchen verschiedene lokale Akteure, die Stadt wieder zu beleben. Die trotz der ökonomischen Schwierigkeiten bisher mehrheitlich von der Bevölkerung akzeptierte lokale Identität Aritas als „Heimat des japanischen Porzellans“ wurde in den Augen vieler Einwohner durch die Entscheidung, mit der vorrangig landwirtschaftlich geprägten Nachbarstadt Nishi-Arita zu fusionieren, bedroht. Um das Gefühl der Krise in der Bevölkerung zu überwinden, bemühten sich die Stadtverwaltungen, Vereine und Unternehmen beider Städte im Vorfeld, eine gemeinsame Identität der am 1. März 2006 neu entstandenen Stadt Arita-chô auszuhandeln. Cornelia Reiher analysierte vor diesem Hintergrund verschiedene Vorstellungen von lokaler Identität Aritas, artikulierte Verlustängste hinsichtlich bestimmter Aspekte dieser Identität und Vorschläge für eine gemeinsame Identität von an diesem Prozess beteiligten Institutionen aus der ehemaligen Stadt Arita-machi.

Anschließend stellte Jan Polivka, Technische Universität Berlin, sein Thema „Schrumpfung japanischer Mittelstädte: Fallstudie Stadt Hakodate (Hokkaidô)“ vor. Die Studie ist im Rahmen des Projekts „Schrumpfende Städte in Japan“ unter der Leitung von Philipp Oswalt mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes entstanden. Am Beispiel der historischen Stadt Hakodate im Süden der Insel Hokkaidô stellte er die Konsequenzen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen in japanischen Mittelstädten außerhalb großer Ballungsräume vor. Auch wenn sich die demographische Schrumpfung Japans bereits mehrere Jahrzehnte vor allem in ländlichen Regionen vollzieht, sind neben kleineren Gemeinden mittlerweile auch in den Mittelstädten mit über 200.000 Einwohnern die Folgen sinkender Bevölkerungszahlen deutlich erkennbar. Neben dem Trend demographischer Veränderungen in der japanischen Gesellschaft und ihren räumlichen Ausprägungen kommt es im Zuge des postindustriellen Zeitalters ebenfalls zur räumlichen und funktionalen Verlagerung von Produktionsschwerpunkten sowie zur Veränderung von historischen räumlichen Vernetzungen. Diese beiden Phänomene prägen entscheidend die Stadtlandschaft einer Vielzahl japanischer Städte. Empirische Daten dokumentieren unter anderem eine selektive Ausdünnung der städtischen Landschaft, eine Verschiebung des funktionalen und wirtschaftlichen Schwerpunktes aus dem historischen Stadtzentrum in die Peripherie und das Verkommen der dünn besiedelten Innenstadt. Diese Entwicklung stellt die historische Stadt vor die künftige Aufgabe einer umfangreichen Stadterneuerung.

Abschließend referierte Maren Godzik vom Deutschen Institut für Japanstudien, Tokyo über „Tendenzen einer Altenwanderung in Japan? Die Beispiele Atami und Ishigaki“. Anlass für die Beschäftigung mit dem Thema war, dass die japanischen Medien in den letzten Jahren das Bild einer großen Umzugswelle von Personen im Rentenalter oder, im Falle der zwischen 1947 und 1949 geboren „Babyboomer“-Generation eines in naher Zukunft massenhaft zu erwartenden Wohnraum- und Wohnortwechsels vermitteln. Die Ziele sollen in den Herkunftsorten dieser in der Mehrzahl in ländlichen Gebieten aufgewachsenen Generation, in landschaftlich schönen Gegenden und Erholungs- oder Feriengebieten, nah am bisherigen Wohnort, aber verkehrsgünstig in der Nähe von Bahnhöfen, in den Stadtzentren der Metropolen oder auch im asiatischen Ausland liegen. Untersuchungen früherer Jahre konnten in Japan jedoch keine Altenwanderung im nennenswerten Umfang nachweisen. Japan wurde dadurch zum Sonderfall unter den Industriestaaten. Falls jedoch in den letzten Jahren eine Änderung eingetreten sein sollte – die letzte Untersuchung zur Bevölkerungswanderung des National Institute of Population and Social Security Research (IPSS) aus dem Jahre 2001 weist darauf hin – oder diese zukünftig zu erwarten wäre (Befragungen der entsprechenden Generation scheinen diese Vermutung zu unterstützen), hätte zumindest die Binnenmigration dieser geburtenstarken Jahrgänge möglicherweise erheblichen, nicht zuletzt wirtschaftlichen Einfluss auf bestimmte Gemeinden oder Regionen. Sie könnte beispielsweise (je nach Verteilung) eine Angleichung der Unterschiede oder auch eine Vergrößerung der Differenzen zwischen verschiedenen Gebieten zur Folge haben. Schon jetzt ist zu beobachten, dass einige Gemeinde sich offensiv um den Zuzug besonders der jungen Alten bemühen, um den Schrumpfungsprozess, der durch den demografischen Wandel unabwendbar geworden ist und besonders ländliche Regionen betrifft, hinauszuzögern. Die „Babyboomer“-Generation, die seit den 1970er Jahren mit ihrem Lebensstil wesentlich zu dem beitrug, was in Bezug auf Familie und Arbeitsleben lange als japanische „Normalität“ galt, könnte sich auch in ihrem kommenden Lebensabschnitt als gesellschaftlich prägend erweisen.

Anhand der Beispiele von Atami und Ishigaki – beide Gemeinden sind der Kategorie „Erholungsorte“ zuzuordnen, jedoch äußerst unterschiedlichen Charakters – zeigte Maren Godzik Tendenzen des Wohnortwechsels älterer Menschen auf. Grundlage waren neben statistischem Datenmaterial vor allem Interviews, die sie mit den Zuständigen der Gemeinde durchgeführt hatte. Die Ergebnisse scheinen jedoch frühere Untersuchungen zu unterstützen, die keine nennenswerten Altenwanderungen nachweisen konnten. Zwar gewinnt das Motiv „Ruhestand“ an Bedeutung unter den Wanderungsmotiven, die meisten Wohnstandortwechsel von älteren Japanern über 55 Jahren finden jedoch innerhalb ihrer jeweiligen Gemeinde statt. Überregionale Seniorenwanderungen sind demgegenüber – zumindest in den untersuchten Fallbeispielen – rein quantitativ derzeit weitaus weniger bedeutsam als dies die öffentliche Diskussion hätte erwarten lassen. Von demographischen Segregationsprozessen und Seniorenstädten à la USA scheint Japan weit entfernt zu sein.

Zusammenfassend haben die Referenten mit ihren interessanten, gesellschaftlich hoch relevanten Beiträgen einen guten Einblick in die Vielfalt der raumwirksamen Schrumpfungs- und Alterungsthematik gegeben. Im Rahmen international vergleichender Forschung, die aufgrund der weltweiten Verbreitung von Schrumpfungsprozessen sinnvoll ist, kann man den daraus resultierenden Herausforderungen am Besten begegnen. Dabei stellt sich auch die grundsätzliche Frage nach der Konvergenz bzw. Divergenz von Stadtentwicklungsprozessen. Es gilt allerdings sorgfältig zu differenzieren: nach ökonomischen und soziokulturellen Mustern sowie nach der geographischen Maßstabsebene. Und es geht außerdem um eine ganzheitliche Analyse der Stadtentwicklung unter Berücksichtigung spezifischer Beiträge aus den Wirtschafts-, Gesellschafts-, Kultur-, Ingenieur-, Umwelt- und Raumwissenschaften. Die Fachgruppe „Stadt- und Regionalforschung“ in der VSJF ist schwerpunktmäßig zwar im Bereich der Humangeographie angesiedelt (Wirtschafts-, Sozial-, Stadt-, Regionale Geographie), sie ist jedoch im Sinne dieses ganzheitlichen Anspruchs interdisziplinär offen.

Thomas Feldhoff (Universität Duisburg-Essen)