Jahrestagung 2015
Energie im modernen Japan: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
20.–22. November 2015 an der Universität Leipzig
Die Jahrestagung 2015 der Vereinigung für sozialwissenschaftliche Japanforschung fand vom 20. bis zum 22. November 2015 unter dem Titel „Energie im modernen Japan – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“ an der Universität Leipzig, in der wunderschön restaurierten universitären Bibliotheca Albertina statt. Die Japanologie Leipzig unter Federführung von Steffi Richter veranstaltete diese Tagung in Zusammenarbeit mit Miranda Schreurs, Leiterin der Forschungsstelle Umweltpolitik an der Freien Universität Berlin und Mitglied der von Bundeskanzlerin Merkel eingesetzten „Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung“. Die Tagung wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung, des Japanischen Kulturinstituts Köln (Japan Foundation) und der Stadt Leipzig.
Die Tagung wurde auch für externe Zuschauer über einen Live-Stream geöffnet. Insgesamt nahmen 16 Referenten und Moderatoren sowie 95 Personen live und ca. 30-50 Zuschauer online am Livestream teil. Die Panelisten umfassten Japanforscher, Politikwissenschaftler, Umweltforscher und Historiker aus Japan, Deutschland, Großbritannien, der Schweiz und den USA.
Es fanden vier Panels und eine Podiumsdiskussion entlang einer vertikalen (diachronen) und einer horizontalen (synchronen) Achse statt. „Energie und Japan“ wurde einmal im zeitlichen Wandel Vergangenheit („Meiji- und Nachkriegs-Japan“), Gegenwart („Postnachkriegs-Japan“) und Zukunft („Green capitalism“? „Degrowth-“/ Postwachstumsgesellschaft? Szenarien nach „Fukushima“ und Energiereformen) diskutiert: vom fossilenergetisch basierten Zeitalter industrieller Wachstumsgesellschaften hin zum Umbau der Gesellschaften und Kulturen als „postkarbone“. Zugleich galt es – gemäß dem seit der Gründung der VSJF verfolgten Ziel, Gesellschaft und Kultur zusammenzudenken und interdisziplinär zu arbeiten –, verschiedene disziplinäre, methodisch-theoretische Ansätze synchron miteinander ins Gespräch zu bringen: „Schwarzes Gold“ (Kohle/Erdöl) und die aus ihm gewonnene elektrische Energie sind auch für Japans kapitalistisch-kolonialistische Moderne nicht nur in ökonomisch-politischer Hinsicht von zentraler Bedeutung. Sie haben sich auch in die mentalen Infrastrukturen (Harald Welzer), in die Lebenswelten sowie in die Sprache/n eingeschrieben und sind zudem wichtige, stets umstrittene Topoi der Japan/er-Diskurse (nihon(jin)ron) geworden. Die aus der Spaltung des Atomkerns entstehende Energie war nicht nur selbst seit ihrer Schaffung von der Spaltung in „gut“ und „böse“, in traumatische Erfahrung und hoffnungsvolle Erwartung gezeichnet – sie spaltete und spaltet weiterhin auch die Gesellschaft in vielfacher Hinsicht: nicht zuletzt räumlich in Atomenergie produzierende Provinzen/Dörfer und diese hauptsächlich konsumierende Metropolen, in eine privilegierte Stammarbeiterschaft in der Stromindustrie und nomadisierende bzw. „Dekasegi-Wegwerfarbeiter“. Bei möglichen Zukunftsszenarien angesichts der „Fukushima“- wie auch der global drohenden Klima-Katastrophen wurde danach gefragt, welche Varianten der Interaktion von Wirtschaft, Politik, Natur, Lebenswelten und Wertegemeinschaften von ihnen entworfen und artikuliert werden.
Diese Betrachtungen sollten vor einem trans- und interkulturellen bzw. trans- und internationalen Hintergrund stehen.
Nach Grußworten von Steffi Richter von der Japanologie Leipzig und dem Vorsitzenden der VSJF, David Chiavacci (Zürich), sowie der Vorstellung des Organisationsteams Dorothea Mladenova (Leipzig), Felix Jawinski (Leipzig) und Sonja Ganseforth (Leipzig) begann die Konferenz mit dem ersten, von Miranda Schreurs geleiteten Panel mit dem Titel „Erneuerbare Energien“ zur aktuellen Klimapolitik im deutsch-japanischen Vergleich. In ihrem Vortrag „Low Carbon Energy Transitions and the Global Climate Negotiations“ verglich Miranda Schreurs die Entwicklungen der letzten Jahre in Deutschland und Japan im Hinblick auf einen (möglichen) Atomausstieg, die Förderung von erneuerbaren Energien und die Bekämpfung des Klimawandels. Watanabe Rie (University of Niigata Prefecture) stellte in ihrem Vortrag „A Comparative Analysis of Climate and Energy Beliefs in Japan and Germany – the Results of Interviews 2006/2007 and 2012/2013“ die komparativen Ergebnisse von Erhebungen zu japanischen und deutschen Einstellungen zu Klima- und Energiefragen vor. Da sie auf Interviews aus den Jahren 2006/7 zurückgreifen konnte, war ein diachroner Vergleich mit der Zeit nach der Atomkatastrophe in Fukushima 2011 möglich. Okimura Tadashi (University of Shimane) ging in seinem Vortrag „Climate Policy in Japan“ auf den politischen Entscheidungsfindungsprozess in der japanischen Klimapolitik an den Beispielen von der Reduktion von Treibhausgasen und der Förderung von erneuerbaren Energien ein und unterschied die beteiligten Akteure danach, ob sie eher einem bürokratie- oder einem politikergeleiteten Modell der Entscheidungsfindung folgen. Anschließend diskutierte Yoshida Fumikazu (Hokkaidō University/Aichi Gakuin University) unter dem Titel „Experience of Renewable Energy and Regional Activation from Hokkaido“ die Perspektiven und Probleme von Projekten zur Produktion und Nutzung von erneuerbaren Energien in Hokkaidō für die Förderung von strukturschwachen Regionen.
Das folgende Panel „Erneuerbare Energie-Orte“ unter der Leitung von Hans Thie (Wirtschaftsreferent der Fraktion Die Linke im Bundestag) widmete sich aktuellen (lokalen) Energie-Projekten im europäisch-japanischen Vergleich. Conrad Kunze (Umweltforschungszentrum Leipzig) stellte unter dem Titel „Renewable Energy in Europe – Local and Public Ownership“ mehrere Graswurzelinitiativen aus Europa vor und ging auf nationale Unterschiede etwa in Bezug auf Einspeisungstarife ein. Für Deutschland konstatierte er einen Trend zur Rekommunalisierung der Energieinfrastruktur und sah in Städten einen möglichen zentralen Akteur der Zukunft. Franz Waldenberger (DIJ Tokyo) präsentierte – u.a. am Beispiel der Kommune von Ōki-machi in der Präfektur Fukuoka – kommunale Energieinitiativen in Japan und wies auch auf deren Vernetzung mit deutschen Organisationen hin. Er zeigte, dass die Zahl von Energieselbstversorger-Kommunen in Japan in den letzten Jahren beständig zugenommen hat und dass diese kommunale Energiebewegung das Potenzial haben könnte, ein Gegengewicht gegen die Übermacht der regionalen Energiemonopolisten zu bilden.
Der zweite Tagungstag befasste sich schwerpunktmäßig mit der Historisierung der japanischen Energiepolitik. Das erste Panel des Tages „Meiji- und Nachkriegs-Moderne und Energie“ (Moderation: Felix Jawinski) führte drei diachrone Perspektiven auf Energie in der japanischen Moderne zusammen. Ian Miller (Harvard University) präsentierte unter dem Titel „Tokyo Electric: Japan in the Age of Global Energy“ einen kulturgeschichtlichen Zugang zur Geschichte der Energie, insbesondere der Elektrizität, seit den 1880er Jahren in Tokyo. Paul Scalise (Universität Duisburg-Essen) konzentrierte sich in seinem Beitrag „Regulating electricity markets: Foreign ideas, domestic interests and four equilibria in Japan’s political economy (1883–2011)“ auf die Regulierung des japanischen Strommarktes und die politischen Entscheidungsfindungsmechanismen in diesem Sektor. Auf der Grundlage ökonomischer Statistiken und Archivmaterial überprüfte er unterschiedliche Modelle zur Erklärung von Phasen des Gleichgewichts und des raschen institutionellen Wandels in der Zeit von 1883 bis 2011. Julius Weitzdörfers (Cambridge University) Vortrag „Nuclear energy and regulatory capture in post-war Japan“ beschäftigte sich mit rechtlichen Aspekten der Regulierung von Risiken und Haftbarkeiten in der Atomenergie im Japan der Nachkriegszeit. Im Hinblick auf die Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 wurde deutlich, wie das ungeheure Ausmaß der staatlichen Hilfen für die Kompensation der Katastrophenopfer jede privatwirtschaftliche Haftung bei weitem überschreitet.
Das letzte Panel der Tagung „Energetische Moderne in der Nussschale: Hashima/Gunkanjima“ (Moderation: Sonja Ganseforth) befasste sich mit der ‚Kohleinsel‘ Hashima, besser bekannt unter dem Namen ‚Gunkanjima‘ (battleship island), nahe der Stadt Nagasaki. Da Regine Mathias (Ruhr-Universität Bochum) leider krankheitsbedingt nicht anwesend sein konnte, übernahm Steffi Richter neben der Betrachtung der Insel aus kulturhistorischer Sicht auch die sozialhistorische Perspektive anhand von Aufzeichnungen und Bildmaterial von Frau Mathias. In Anbetracht der jüngsten Anerkennung Hashimas als UNESCO-Weltkulturerbe machte sie ein kulturelles Spannungsfeld auf: zwischen Hashima als bedeutendem Zeugnis der Industrialisierung Japans und faszinierender architektonischer Touristenattraktion einerseits, und einer düsteren Betonruine, geprägt von einer dunklen Geschichte der Zwangsarbeit und diskriminierender Arbeits- und Lebensbedingungen, andererseits. Das Panel wurde künstlerisch ergänzt durch die Videoinstallation „Spelling Dystopia“ der beiden Berliner Künstler Nina Fischer und Maroan el Sani, die im Rahmenprogramm der Tagung zu sehen war.
Nach der nachmittäglichen VSJF-Mitgliederversammlung fand in der abschließenden Diskussionsrunde „Atom-Dörfer und -Städte“ ein deutsch-ukrainisch-litauisch-japanischer Vergleich in Bezug auf den Umgang mit Atomtechnologie statt. Joachim Radkau (Universität Bielefeld) berichtete zum „Fall Deutschland“ von den Ursprüngen der Anti-Atom-Bewegung in Deutschland. Anna Veronika Wendland (Herder-Institut Marburg) gewährte Einblicke in ihre langjährige Feldforschung in verschiedenen Atom-Gemeinden in der Ukraine, Litauen und Deutschland und ihre teilnehmenden Beobachtungen im Arbeitsalltag von Nukleartechnikern und -arbeitern in einzelnen Reaktoren. Martin Dusinberre (Universität Zürich) ergänzte die Diskussion mit der japanischen Perspektive und ging vor allem auf den Fall der Gemeinde Kaminoseki in der Präfektur Yamaguchi ein, die seit Jahrzehnten von heftigen Auseinandersetzungen über den geplanten Bau eines Atomkraftwerkes geprägt ist.
Neben dem alljährlich der Tagung vorgelagerten, thematisch freien Gender-Workshop versammelte der Nachwuchsworkshop „Broadeninig Understandings of Energy“ unter der Leitung von Miranda Schreurs (Freie Universität Berlin) 14 Teilnehmer, davon 3 Vortragende. Als Rahmenprogramm fand außer dem bereits erwähnten künstlerischen Ereignis „Spelling Dystopia“ eine Stadtführung unter dem Motto „Postwachstums-Leipzig“ statt, organisiert von Ōtani Yū (Doktorand der Leipziger Japanologie und Aktivist/Leiter von „Das Japanische Haus e.V.“), der die Teilnehmer an „energie-alternative“ Orte der sich erneuernden Stadt Leipzig führte.
Am Sonntagvormittag tagten die Fachgruppen der VSJF.
Die Aufnahmen des Livestreams vom Zentrum für Medien und Kommunikation der Universität Leipzig können ab April 2016 großenteils auf dem YouTube-Channel „Japanologie Leipzig“ aufgerufen und nachgesehen werden.
Link: (–> Link zum YouTube-Channel)
Im Namen der Leipziger Japanologie: Sonja Ganseforth