Fachgruppensitzung Kultur und Medien 2007

Auf der VSJF-Jahrestagung 2007 bot die Fachgruppe „Medien und Kultur“ drei Nachwuchs-Japanologinnen ein Diskussionsforum für ihre teils noch in Arbeit befindlichen, teils bereits abgeschlossenen Magisterarbeiten zu den Themen „Not in Education, Employment or Training – NEET in Japan. Nichterwerbstätigkeit junger Erwachsener als ‚neues’ Phänomen und die Rolle der Medien“ (Silke Werth, Universität Heidelberg, Betreuer: Prof. Dr. W. Seifert), „Bosei versus Onihaha: Eine Kindsmörderin in der Berichterstattung japanischer Wochenzeitschriften“ (Teresa Weigert, LMU München, Betreuerin: Prof. Dr. E. Schulz) und „Die Entwicklung der Alltagsfotografie in Japan“ (Katja Ferstl, LMU München, Betreuerin: Prof. Dr. E. Schulz). Der erste Teil der Sitzung (Vortrag von Silke Werth) fand dabei gemeinsam mit der Fachgruppe „Erziehung“ statt.

Silke Werth hinterfragte in ihrem Vortrag die Darstellung der so genannten „NEET“ in den japanischen Medien als „Jugend ohne Arbeitseifer“. Die Diskussion um NEET entstand scheinbar plötzlich, als Mitarbeiter des neu geformten Japan Institute for Labour Policy and Training im Jahr 2004 die Abkürzung für „Not in Education, Employment or Training“ aus Großbritannien übernahmen und der japanischen Situation anpassten. Junge Erwachsene im Alter von 15 bis 34 Jahren, die weder in schulischer oder beruflicher Ausbildung, noch in einem Arbeitsverhältnis gebunden sind, wurden durch diese Bezeichnung als „neues Phänomen“ zusammengefasst und von allen Seiten argwöhnisch als „schmarotzende, faule Jugend“ betrachtet. Anhand statistischer Hintergrunddaten und einem Rückblick in die Geschichte der Jugendsoziologie-Forschung konnte in der Magisterarbeit jedoch nachgewiesen werden, dass es zwar tatsächlich einen geringen Anstieg an NEET gab, deren Anteil aber nie über zwei Prozent der jeweiligen Altersklasse stieg und somit das übermäßige Krisengefühl nicht gerechtfertigt werden kann. Zudem gab es bereits seit der Taishô-Zeit Aufzeichnungen des Phänomens nicht erwerbstätiger junger Erwachsener, das mit wechselnden Begriffen benannt wurde.

Auffällig ist jedoch eine Häufung in den 1990er Jahren, in denen sich das allgemeine Krisenbewusstsein („lost decade“) wohl auch auf die Beschreibung der Jugend niedergeschlagen hat. Während in England NEET zu Recht als „significant minority“ gesehen werden, führte in Japan deren übermäßig propagierte Verallgemeinerung so weit, „normale Jugendliche“ in eine gefühlte Außenseiterposition zu drängen. Da die NEET-Anzahl im letzten Jahr sogar rückläufig war, verlieren Theorien über einen Verlust des Arbeitseifers und mangelnder Moral der Jugend an Boden. Es scheint vielmehr, als ob die japanische Jugend in die Defensive gehe, als offensiv um ihre Stellung zu kämpfen. Adoleszenz und vor allem der Übergang von der beschützten und geregelten Schulzeit in die Eigeninitiative fordernde Arbeitswelt ist steinig und schwer und macht Jugendliche zu einem einfachen Angriffsziel. Wie ungenau einige Ansichten sind, zeigt sich nicht zuletzt an der mangelnden Abgrenzung zu den bestehenden Phänomenen der Parasite Single und hikikomori und der Gleichsetzung von „NEET = kriminell“. Durch Betonung des vermeintlichen „Verfalls schulischer Leistungen und Moral“ der Jugendlichen wird oft ein Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Geburtenstärke der Jahrgänge vergessen.

In der Folge werden geeignete Maßnahmen zur Förderung der Chancen und Erleichterung des Einstiegs in die Arbeitswelt übergangen. Dabei spiegelte sich der Anstieg der Neuanstellungen der letzten Jahre sofort in einem Rückgang der Zahl der jüngeren NEET wieder. In der Wochenpresse erkennt man eine eindeutige Negativ-Kampagne gegen die Jugend, bei der auf die individuellen und allgemeinen finanziellen Folgen des NEET-Anstiegs und die Rolle der Eltern, vor allem die „Vaterlosigkeit“ der Jugend, eingegangen wurde. Die Verwendung der Bezeichnung „NEET“ in Wortkonglomeraten zur Beschreibung einer Vielzahl sozialer Phänomene, wie die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz („shanai nîto“) oder die Verzögerung der Heiraten („kekkon nîto“), unterstreicht laut Werth einmal mehr die Popularität der NEET als Schlagwort in den Medien.

Als empirische Methode hat Werth eine eigene Studie zur Einstellung von Schülern und Studenten zu Arbeit und Nichterwerbstätigkeit durchgeführt. Die Umfrage wurde mit jungen Probanden an vier demographisch unterschiedlichen Orten (Hokkaidô, Tôkyô, Kyûshû, japanisches Internat in Deutschland) mit dem Ziel erhoben, aus der Position eines „objektiven Gleichaltrigen“ das Bild von NEET als „schmarotzende Jugend“ zu versachlichen und zu korrigieren. Auffällig war dabei, dass man selbst bei japanischen Jugendlichen vergeblich nach Verständnis für NEET sucht, wobei unter jüngeren Befragten ein großer Mangel an Unterscheidungsfähigkeit zwischen den sich sozial abkapselnden „hikikomori“ und den nicht erwerbstätigen NEET herrschte. Die Erhebung zeigte zudem eine Abneigung gegen die Berufsform „sararîman“ und deutliche Differenzen zwischen den Zukunftsplänen und Gedanken der Jugendlichen auf dem Lande zu jenen im Ballungsgebiet um Tokio und den „Eliteschülern“ im Internat der Tôin Gakuen in Baden-Württemberg. Während Schüler auf dem Lande einen Arbeitsbeginn nach Abschluss der Oberschule ins Auge fassten und Unternehmen tendenziell eine höhere Verantwortung für den NEET-Anstieg zuschrieben, bestätigten die anderen die Theorie der Universität als Massenbildungsinstitut und sahen die Ursache von NEET bei den Betroffenen selbst. Erwartungen an politische Maßnahmen suchte man bei allen Befragten vergeblich. Die Arbeit unterstreicht insgesamt, dass der gängige Eindruck von NEET als „arbeitsfaule“ Jugend nicht immer berechtigt ist und in der Hinsicht erweitert werden sollte, NEET neutraler als „im Moment weder arbeitende noch eine Ausbildung absolvierende junge Menschen“ anzusehen. Nicht die Jugend ist als Problem zu sehen, sondern eher die Ansichten der Gesellschaft und deren negativen Einfluss auf diese. So verspricht nicht der Versuch, Menschen anzugleichen, eine weitere Senkung der NEET-Anzahl, sondern die Gewährung eines „förderlichen“ Umfelds, in dem familiäre und schulische Erziehung, Unternehmen, Medien und Politik harmonisch zusammenwirken.

Mit der Rolle der Medien und der Darstellung einer anderen „Problemgruppe“ (der „bösen Mütter (onihaha)“) befasste sich auch der zweite Vortrag zu der in Vorbereitung befindlichen Magisterarbeit von Teresa Weigert. Anhand der Analyse eines Korpus von Artikeln aus japanischen Wochenzeitschriften zu einem Fall von Kindsmord im Jahr 2006 soll die Darstellung der Tatverdächtigen und der ihr vorgeworfenen Taten und Verhaltensweisen herausgearbeitet werden. Der Arbeit liegt die These zugrunde, dass sich in der japanischen Gesellschaft latent vorherrschende Ideale von Mütterlichkeit in der Berichterstattung widerspiegeln und ein Verstoß gegen diese die emotionalisierte und teilweise mit Vorurteilen behaftete Berichterstattung (media scrum) begünstigt. Diese These wird gestützt durch die Ergebnisse von Forschungsarbeiten zur Berichterstattung japanischer Tageszeitungen über Kindsmorde Anfang der 1970er Jahre (z.B. Tama, Yasuko, 2001: Boseiai to iu seido. Kogoroshi to chûzetsu no politikusu. Tôkyô: Keisô Shobô).

Die japanischen Wochenzeitschriften wurden in der westlichsprachigen japanologischen Forschung bisher kaum beachtet, obwohl sie in der japanischen Medienlandschaft eine nicht unwichtige Stellung einnehmen. Aus diesem Grund erscheint eine Analyse ihrer Berichterstattung gewinnbringend, auch im Hinblick auf künftige Forschungsvorhaben zu japanischen Boulevardmedien und Medienhetze. Der Anregung in der Fachgruppen-Diskussion folgend wird der zu analysierende Zeitschriften-Korpus auf Artikel in den zwei auflagenstärksten Titeln (Shûkan Bunshun und Shûkan Shinchô) eingegrenzt. Der Untersuchungszeitraum wird auf Mai bis Dezember 2006 beschränkt. Im begrenzten Rahmen dieser Magisterarbeit soll eine linguistische Analyse im Mittelpunkt stehen. Grundlegend hierbei ist die Methodik der Kritischen Diskursanalyse (Critical Discourse Analysis, CDA), welche auf die Frankfurter Schule um Habermas und Foucault zurückgeht und von Fairclough, Wodak u.a. weiterentwickelt wurde.

Zum Schluss präsentierte Katja Ferstl einen Ausschnitt aus ihrer frisch eingereichten Magisterarbeit zum Thema „Entwicklung der Alltagsfotografie in Japan“. Die Faszination am Fotografieren werde seit jeher als „typisch“ für JapanerInnen angesehen. Nicht nur der immense Produktionsausstoß japanischer Kamerahersteller, sondern vor allem die nahezu alltägliche Beschäftigung japanischer Amateure, Hobbyfotografen bzw. „Knipser“ mit dem Medium stechen hierbei ins Auge. Stichworte in neuerer Zeit sind hier purikura (spezielle Fotoaufkleberautomaten) sowie die beliebten keitai kamera (in das Mobiltelefon integrierte Kamera) oder auch der vom Kunstfotografen Araki Nobuyoshi in Anlehnung an den „Ich-Roman“ („shi-shôsetsu“) geprägte Begriff der „Ich-Fotografie“ („shi-shashin“), mit dem er ein neues Genre der „Selbstproduktion“ bzw. „individuellen Selbstdarstellung“ durch die Fotografie definierte. Nicht zuletzt durch die immense Nachfrage auf dem japanischen Binnenmarkt im Zuge der Alltagsfotografie kam es zur gesteigerten Produktion japanischer Kameraherstellung und der damit einhergehenden weltweit führenden Position japanischer Produkte wie Canon, Nikon etc.. Leitfrage des Vortrags war daher, inwiefern die Entwicklung der Alltagsfotografie in Japan seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Rückschlüsse auf die Entstehung einer „japanischen Fotografie-Begeisterung“ erlaube.

Im ersten Teil des Vortrags wurde kurz ein historischer Abriss der Alltagsfotografie vorgestellt. Bildliche Darstellungen des Alltags hatten in Japan bereits vor der Einführung der Fotografie, im Jahr 1848, in Form von populären Farbholzschnitten eine lange Tradition. Das Massenmedium der ukiyo-e („Bilder der fließenden Welt“) war somit ein wichtiger Vorläufer der Fotografie in Japan. Viele der bevorzugten Bildthematiken sind für die historischen „Fotografien vom verschwindenden Alltag“ durch und für Ausländer in Form der Yokohama- oder Souvenirfotografie zur Zeit der Einführung des Mediums in Japan übernommen worden. Da aber in Japan zur gleichen Zeit die Modernisierung rapide voranschritt, wurden die Aufnahmen häufig gestellt, um Anzeichen von Industrie und Fortschritt auszublenden und den Bildwünschen der ausländischen Konsumenten zu entsprechen. Das Besondere an Japan im Gegensatz zu anderen Ländern war hier, dass im Lauf der Zeit immer mehr einheimische Fotografen die Produktion dieser Bilder übernahmen und schließlich den Markt allein beherrschten. Die Souvenirfotografie wurde auf Grund der immensen japanischen kommerziellen Produktion in Reaktion auf die große ausländische Nachfrage zu einem regelrechten Massenmedium.

Auch heute noch findet man viele dieser Asien- bzw. Kapitänsalben oder Glasplattenfotografien aus Japan. Dadurch legten die japanischen Berufsfotografen einen der ersten Grundsteine für die weitere Entwicklung der japanischen Alltagsfotografie. Diese Aufnahmen mit dem Alltag als Bildinhalt waren sozusagen der Ursprungspunkt der Fotografie in Japan, von dem aus sie sich kontinuierlich weiter zur gegenwärtigen Praxis des „Fotografierens als alltägliches Vergnügen“ entwickelte. „Alltagsfotografie“ als Begriff steht laut Ferstl demnach einerseits für Fotografien, die den Alltag als Gegenstand bzw. Bildinhalt oder Motiv haben. Auf der anderen Seite kann man damit aber auch das Fotografieren als alltägliche Betätigung oder als „alltägliches Vergnügen“ bezeichnen. Diese Doppeldeutigkeit des Begriffs ermögliche es, die Entwicklung der Fotografie in Japan von den historischen, von zumeist ausländischen Berufsfotografen produzierten Fotografien vom Alltag, hin zum gegenwärtigen Fotografieren als Alltag durch japanische Amateure oder „Knipser“, also ganz „gewöhnliche“ Menschen, unter einem Abstraktum zusammen zufassen. Als Fazit konnte gezogen werden, dass in der Magisterarbeit zunächst vor allem eine Definition des Gebietes und Erfassung des Forschungsstandes zum Thema „Alltagsfotografie“ geleistet werden konnte. Auf dieses Fundament aufbauend sind jedoch weitere Analysen und Forschung ein dringendes Desiderat.

Cosima Wagner, M.A. (Universität Frankfurt/Main)