Fachgruppensitzung Kultur und Medien 2009
Fujoshi (腐女子), das ein Wortspiel mit dem homonymen Begriff für ‚Dame‘ (婦女子) darstellt, bedeutet wörtlich ‚verdorbene Mädchen‘ und ist die selbst gewählte und zugleich selbstironische Bezeichnung für die Leserinnen männlich-homosexueller Manga und Romane, die als Boys‘ Love (BL) oder yaoi bekannt sind. Seit den späten 1980er Jahren blüht in Japan der Diskurs über diese Frauen, insbesondere wenn es um die Frage geht, warum Frauen Geschichten lesen, in denen Beziehungen zwischen Männern dargestellt werden, jedoch keine einzige weibliche Hauptfigur auftaucht.
Die kennzeichnenden Elemente für den fujoshi-Diskurs waren Essentialisierungen, pathologisierende Erklärungen auf Grundlage der Textanalyse einiger weniger Titel und ein Bild der Frau als Negativum, demzufolge sie nur als Partnerin eines Mannes oder nach solch einer Partnerschaft strebend denkbar war. Der jüngste, massenmediale fujoshi-Boom ab 2006 bietet jedoch eine neue Diskursposition, die vor allem von jungen Wissenschaftlerinnen und BL-Praktikerinnen vertreten wird, eine andere Perspektive, die tayōsei (多様性), also Vielfalt betont – die Vielfalt des Genres selbst wie auch seiner Leser/innen. Dabei wird auf die Frage des ‚Wie?‘ fokussiert, anstatt auf das problematische ‚Warum?‘.
Dieser neue Blick auf das Genre spiegelt dabei Entwicklungen wider, wie sie die Mediennutzungsforschung in den 1970er Jahren erfuhr. Kern dieser Entwicklungen war eine Perspektive, die dem symbolischen Interaktionismus folgte, das Publikum somit als aktiv begriff und dementsprechend das Forschen ausgehend vom Rezipienten verlangte. Auf diesem Anspruch basierend wurden für die vorliegende Arbeit mehrere qualitative Interviews in Japan und Deutschland durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet, um die Vielfalt der BL-Nutzung und der daraus gewonnen Gratifikationen aufzuzeigen.
Auf Grundlage der Interviewanalysen konnten mehrere Nutzertypen gebildet werden – ein einziger, die Nutzungsmuster aller fujoshi (und männlicher fudanshi, 婦男子) inkludierender Typ hingegen war nicht möglich, zu sehr divergieren die Art und Weise der Nutzung. Die Vielfalt der gesuchten Gratifikationen wurde mithilfe von Maslows Bedürfnishierarchie systematisiert. BL (jedoch nicht jedes einzelne Werk) befriedigt eine große Spannbreite an Bedürfnissen: Vom Sicherheitsbedürfnis bis hin zur Selbstverwirklichung (z.B. durch eigene Autorenschaft). Insbesondere die Anschlusskommunikation (Bindungsbedürfnis) und kognitive Bedürfnisse konnten als häufig gesuchte Elemente identifiziert werden.
Ein weiteres Ziel der Arbeit lag darin, einen Referenzrahmen anzubieten, mit dem die BL-Nutzung mit der Aneignung anderer Medien in Bezug gesetzt werden kann. Bezogen auf die Selbstverwirklichung und die Einfachheit der Aneignung konnten Überschneidungen mit der Nutzung von Weblogs aufgezeigt werden.
Das Ziel des Vortrags „Konsum als Heilung: Die Takarazuka Revue oder das Geschlecht zwischen Disziplin(ierung) und Vermarktung“ von Maria Grăjdian war es, nachzuweisen, auf welche Weise Geschlecht als ästhetisch-ideologische Schnittstelle soziokultureller Phänomene im Licht von Konsumpraktiken und Disziplinierungsdiskursen anhand der Takarazuka Revue entsteht. Die Takarazuka Revue ist eine japanische Form des musikalischen Unterhaltungstheaters und wird als eine Umkehrung des männlichen Kabuki bezeichnet, denn auf ihrer Bühne treten ausschließlich Schauspielerinnen auf.
Bei dieser Analyse der Geschlechterinszenierung auf der Takarazuka Revue-Bühne liegt der Fokus auf der durch die Takarasiennes – die Takarazuka Revue-Schauspielerinnen – verbildlichten Shôjo-Gestalt. Kern der Präsentation war ein Videobeispiel mit der Schlussparade aus der Aufführung „Dancing For You“ des Himmel-Ensembles aus dem Jahr 2008, die wohl die ultimative Anerkennung der diskursiven Zerstörbarkeit ’natürlicher‘ Gegebenheiten und die Verflüssigung historisch-sozialer Praktiken bedeutet. Die Auslöschung der Geschlechtergrenzen sowie die Erkenntnis der diskursiven Zerstörbarkeit ’natürlicher‘ Geschlechter ermöglicht die Erkenntnis, genauso wie Geschlecht sei auch Identität ein mehrdeutiges Spiel mit flüssigen Grenzen. Dadurch verwandelt sich die Takarasienne in eine selbstbewusste und zuverlässige Vermittlerin der erzkonservativen Tradition, die jedoch modifiziert überliefert wird, indem ihr der Keim der Modernität eingeschrieben wird.
„Zwischen hinkon bijinesu und conspicuous non-consumption: Zu den Konsumpräferenzen der jüngeren Working Poor in Japan“ lautete der Titel von Julia Obingers Vortrag. Auch in Japan wird seit Jahren eine zunehmende Vergelegentlichung von Arbeitsverhältnissen bei mangelhafter sozialer Sicherung und der damit verknüpften Prekarisierung von Lebensverhältnissen auf breiter Ebene beobachtet. Diese wachsende neue „Unterschicht“, zu der auch die so genannten Working Poor (kinrōhinkon) zählen, kann, aufgrund ihres sehr geringen Einkommens und den damit äußerst begrenzten Konsummöglichkeiten, dem Anspruch des konventionellen japanischen Wohlstandskonzepts, das Reichtum und Zufriedenheit ausschließlich in materiellen Dimensionen definiert, nicht oder nur teilweise nachkommen. Daraus ergeben sich für viele Working Poor auch geringere Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe, wobei es jedoch ebenso Hinweise darauf gibt, dass sich viele der Working Poor mit ihrer wirtschaftlich vergleichsweise schwachen Situation arrangieren und alternative Lebensentwürfe an Attraktivität gewinnen.
Im vorgestellten Projekt soll jenseits einer einseitigen Problematisierung und Zuteilung von Opferrollen festgestellt werden, in welcher Weise die vorhandenen Konsumbedürfnisse trotz materiell prekärer Lebensumstände befriedigt werden können, welche Konsumentscheidungen getroffen werden und welche generellen Konsumpräferenzen und -muster erkennbar sind. Anhand dieser Erkenntnisse sollen Rückschlüsse auf den Lebensstil dieser Gruppe gezogen und festgestellt werden, ob sich mit den Working Poor eine neue „Schicht“ oder „Subkultur“ mit eigenen Wertvorstellungen und einem alternativen Verständnis von Konsum herausbildet und hier möglicherweise sogar von einer Umdeutung des Begriffs „Luxus“ gesprochen werden kann. Die damit verknüpften kulturellen Präferenzen sowie die veränderten Konsum- und Infrastrukturbedürfnisse sollen ebenso untersucht werden wie die Frage, inwieweit einkommensschwache Japaner als neue Zielgruppe wahrgenommen und angesprochen werden und welche Kräfteverhältnisse sich hierbei herausbilden.
Entlang einer genauen Betrachtung der Umstände der Modernisierung urbaner Lebensräume in der frühen Meiji-Zeit verdeutlichte der Vortrag von Mathias Hamp mit dem Titel „Moderne Architektur für ein modernes Kaiserreich“, in welcher Weise der Aufbau des imperialen Tokyo sowie die Umgestaltung anderer regionaler Zentren auch als ein Vehikel für die mediale Vermittlung nationalstaatlicher Identität zu verstehen ist. Im Zuge des gesellschaftspolitischen Wandels des 19. Jahrhunderts engagierte sich die neue Führung des Meiji-Staates im Um- und Aufbau der urbanen Zentren Japans. Dies wurde insbesondere in der Umgestaltung der östlichen Hauptstadt Tokyo, aber auch in vielen regionalen Zentren deutlich. Wichtige Impulse zu diesen Restrukturierungsmaßnahmen gaben dabei nicht nur die Fachleute, die zu diesem Zweck aus dem Ausland eingeladen wurden. Auch die Niederlassungen, welche in den neu gegründeten Überseehäfen wie Yokohama oder Kobe entstanden, können als Erprobungsstätte im Umgang mit neuen Baupraktiken und Materialien wie Zement, Glas und Stahl angesehen werden. Der Erprobungscharakter wurde in diesem Beginn einer modernen japanischen Architektur besonders angesichts der wiederholten Fehlkonzeptionen und Missstände in historischen Bauvorhaben deutlich. Little London, das zum zukünftigen Geschäftsviertel der neuen imperialen Hauptstadt avancieren sollte, konnte zum Beispiel wegen mangelnder Belüftungsmöglichkeiten und den daraus resultierenden Folgen kaum Benutzer auf sich ziehen. Die Statik größerer Bauten war, im Unterschied zu traditionelleren Bauformen, Erdbeben kaum gewachsen. Angesichts der erzwungenen Öffnung der Vertragshäfen, dem Versuch einer außenpolitischen Selbstbehauptung, scheint die Übernahme fremder Baupraxis in Japan vor dem Hintergrund dieser Mängel mehr als paradox. Im Unterschied zu weitgehend etablierten Lehrmeinungen vertrat Hamp in seinem Vortrag die These, der städtebauliche Wandel ab der Meiji-Zeit habe keineswegs ausschließlich pragmatischen Vorgaben gefolgt. Im Gegenteil, Architektur – im weitesten Wortsinn – wurde unter den Meiji-Führern unter dezidiert sendungsbewussten Gesichtspunkten instrumentalisiert, um ihren Anspruch auf ein modernes Kaiserreich zu untermauern. Dieser wichtige Teilaspekt der Entstehung des modernen japanischen Kaiserreichs blieb, abgesehen von einigen wenigen erhalten repräsentativen Zeugnissen, angesichts rascher Bauzyklen kaum beachtet. So wird der meijizeitlichen „Städteschau“ nur unter betont praktischer Hinsicht als Beginn einer japanischen Architekturmoderne gedacht, ohne aber der Rekonzeption zentraler Orte unter ästhetischen Aspekten Rechnung zu tragen.
In seinem Vortrag „Ganbare, Ore-tachi!‘ Die Inszenierung japanischer Comedy als Wettkampf am Beispiel des Manzai-Wettbewerbs M-1 Grandprix“ beschäftigte sich Till Weingärtner mit dem in Japan immer populärer werdenden Medienformat der Comedy-Wettbewerbe und erläuterte seine Beobachtungen anhand einiger Beispiele aus der Fernsehsendung „M-1 Grandprix“. Der „M-1 Grandprix“ ist ein seit 2001 jährlich veranstalteter Manzai-Wettbewerb, der professionellen Komikern ebenso offen steht wie Amateuren und Jahr für Jahr mehrere Tausend Teilnehmer anlockt. Die Popularität dieses Wettbewerbs hat entscheidend zum aktuell anhaltenden „Comedy Boom“ in Japan beigetragen.
Till Weingärtner wies in seiner Analyse der medialen Aufbereitung des Finales des „M-1 Grandprix“ im Besonderen auf die Ähnlichkeiten mit der Übertragung von Sportereignissen hin. In beiden Fälle dienen Einspielungen von Hintergrundberichten, Expertenkommentare zu den Darbietungen, musikalische Untermalung oder Voraussagen über mögliche Gewinner und Favoriten u.ä. dem Aufbau zusätzlicher Spannung. Ein Comedy-Wettbewerb wie der „M-1 Grandprix“ bedient sich darüber hinaus weiterer Elemente des Sports, etwa in der bildlichen Präsentation der Teilnehmer als zum Kampf bereitstehende Boxer, aber auch auf sprachlicher Ebene: Schon der Begriff „M-1“ orientiert sich an Bezeichnungen wie „F-1“ oder K-1“, die für sportliche Großereignisse stehen. Finalteilnehmer werden in eingespielten Videos oder von den Moderatoren häufig als „Kämpfer“ bezeichnet.
Eine solche Inszenierung von Comedy führt zu einer veränderten Rezeption durch die Zuschauer, die sich z.B. durch Einträge in Fan-Blogs ablesen lässt. Im Mittelpunkt des Interesses steht kaum noch das Material des einzelnen Komikers, sondern verstärkt die Frage, wie sich die Akteure im Gesamtkonzept Wettbewerb schlagen. Die narrative Ebene des Wettbewerbs überlagert somit die eigentliche Comedy. Auch die Texte der Komiker selbst verändern sich: Sie werden kürzer, längere Auftritte werden verstärkt zu einer Kombination verschiedener kürzerer „wettbewerbsgeeigneter“ Materialien.
„Kriegspiele: Zur Militarisierung der Kindheit im zwanzigsten Jahrhundert“ war das Thema von Sabine Frühstück, die mit ihrem Vortrag Einblick in laufende Forschungsarbeiten gab. Den Kern ihrer transkulturellen, historischen Analyse, die vor allem Japan, Deutschland und die USA (und Cyberspace) ins Auge fasst, bildete das Argument, dass sich im zwanzigsten Jahrhundert die Beziehungen zwischen den verschiedenen Modi der Militarisierung und den Konzeptionen von Kindheit dramatisch verändert haben.
Philippe Ariès, der in „L’Enfant et la vie familiale sous l’ancien régime“ (1960) das achtzehnte Jahrhundert als das Jahrhundert der Entdeckung der Kindheit in Europa beschrieben hat, konstatierte, dass zur damaligen Zeit Spiele als beste physische Ertüchtigung und Ausdrucksort von Patriotismus „erkannt” wurden. Französische Regierungsmitglieder hatten in einem Traktat zu „Gymnastique de la Jeunesse“ geschrieben, dass „militärischer Drill, der von jeher die Basis der Gymnastik darstelle,” im Sinne der französischen Verfassung auf die Verteidigung der Nation ausgerichtet zu sein habe, zumal „unsere Kinder Soldaten sind schon bevor sie geboren sind.” Eine ähnliche Sichtweise wie Ariès‘ lässt sich in Yanagita Kunios „Meiji Taishôshi sesôhen“ (1957) auch für das Japan des frühen 20. Jahrhunderts feststellen.
Laut Frühstück erhoffen sich am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts nun Militärrekruter in Japan und anderswo, dass digitale Kriegsspiele, die typischerweise als Koproduktionen von militärischen Organisationen und der Unterhaltungsindustrie entwickelt werden, Kinder und Jugendliche mit dem Krieg vertraut machen und ins Militär ziehen. Während die Referentin für den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch eine massive Beeinflussung deutscher militärischer Praktiken auf jene anderer Staaten sieht, darunter auch Japan, konstatiert sie für die Gegenwart hingegen die Dominanz japanischer digitaler Technologien auf Kriegsspiele in der ganzen Welt.
In ihrem Vortrag ging Sabine Frühstück Veränderungen wie diesen nach, indem sie sich mit der Frage auseinandersetzte, wie Kinder Krieg spielen und wie militärische Organisationen und/oder die Staatsapparate, mit denen sie verbunden sind, versuchen, Kinder in Kriegsspiele einzubeziehen.