Fachgruppensitzung Kultur und Medien 2010
Auf der Sitzung der Fachgruppe „Kultur und Medien“ wurden vier sich teils noch in Arbeit befindliche, teils bereits abgeschlossene Magisterarbeiten und Dissertationen zu den folgenden Themen vorgestellt und diskutiert: „Japanisches Kinderfernsehen gestern und heute am Beispiel der Serie Okāsan to issho“ (Matthias Lambrecht, Tokyo Kasei Universität), „Die Inszenierung von Ethnizität in der japanischen Fernsehshow Koko ga hen da yo Nihonjin (1998–2002, dt.: „Das geht so nicht, Ihr Japaner!“) (Jan Paul Hoga, Universität Marburg), „Botschaften der Dingwesen – Die Bedeutung der ‚Character’-Kommunikation in Japan“ (Christiane Rühle, Universität Frankfurt), „We want ENGEKI to be POP! Populärkultur im japanischen Gegenwartstheater“ (Lisa Mundt, Universität Frankfurt).
Matthias Lambrecht setzte sich in seinem Vortrag über japanisches Kinderfernsehen mit der geschichtlichen Entwicklung und dem pädagogischen Aufbau der Sendung Okāsan to issho auseinander. Die Kinderserie, die seit 1960 produziert wird und sich in erster Linie an Kleinkinder im Alter von 2 bis 4 Jahren richtet, setzt sich aus voneinander unabhängigen Segmenten wie Gesang, Gymnastik oder Theaterstücken zusammen, die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer wieder einzeln erneuert wurden. Prägend ist der hohe Anteil an musikalischen Elementen, weshalb das Programm sich auch als musical variety definiert. Anhand von Videobeispielen demonstrierte Lambrecht, wie sich die Gestaltung der Segmente im Laufe der Zeit gewandelt hat. Ein wesentlicher Einschnitt geschah in den 1980er Jahren, als Untersuchungen zum Fernsehverhalten von Kleinkindern offenbarten, dass Zweijährige sich im Schnitt nicht länger als drei Minuten auf einen Sachverhalt konzentrieren können; aufgrund dieser Erkenntnisse wurde die Länge der Segmente teilweise drastisch verkürzt. Im Anschluss an den geschichtlichen Verlauf wurde die aktuelle Fassung der Sendung im Detail betrachtet. Besonders im Vergleich zu deutschen Produktionen wie Die Sendung mit der Maus oder Die Sendung mit dem Elefanten fällt auf, dass auf Filmbeiträge aus der wirklichen Welt nahezu vollständig verzichtet wird, sondern vielmehr eine bunte, einfach gehaltene „Bilderbuchwelt“ präsentiert wird. Dies gilt sowohl für die gezeichneten Segmente, als auch für das Studio- und Kostümdesign der von realen Akteuren moderierten Gesangs- und Gymnastikteile.
Während sich die Auswahl der monatlich wechselnden Lieder sehr stark an jahreszeitlichen Themen orientiert, greift das täglich ausgestrahlte Puppentheater Monoran-monoran mit seiner Welt der belebten Dinge auf die klassischen tsukumo-gami-Erzählungen zurück – beides Hinweise darauf, dass die Sendung zwar nicht unbedingt Wissen im klassischen Sinne des Bildungsfernsehens vermitteln will, aber doch unter Umständen eine gewisse kulturelle Sendungs- oder Prägungsfunktion ausgeübt werden soll. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass gewisse Charaktere wie etwa die Figuren des Puppentheaters, aber auch der Taisō-no-onīsan aus dem Gymnastikprogramm, zu Bezugspersonen werden, an die sich eine jeweilige Zuschauergeneration noch lange Zeit später zurückerinnert (z.B. Sato Hiromichi). Im Rahmen der Diskussion kam hierzu die Frage auf, ob und wie die hierdurch geprägten Erinnerungsmuster einen Beitrag zur Schaffung einer „nationalen Identität“ leisten könnten; die Antwort musste zum jetzigen Zeitpunkt aber offen bleiben.
Ebenfalls angesprochen wurde der heutzutage als problematisch anzusehende Genderaspekt des Sendungstitels, der mit „okāsan“ lediglich die Kindesmütter anspricht und somit Väter und andere Familienmitglieder ausklammert – gerade angesichts jüngerer Trends in den Medien Väter, die sich aktiv an der Kindeserziehung beteiligen, mit dem Begriff ikumen als „cool” zu stilisieren, lässt der Titel der NHK-Sendung doch eher an „traditionelle” Geschlechterrollen zurückdenken. Lambrecht zufolge ist es vermutlich der Erfolg von Okāsan to issho als langjähriges Aushängeschild des NHK-Kinderfernsehens, der größere Reformen verhindert. Das Grundrezept ist zwar alt, hat sich aber in dieser Form zu sehr bewährt, um wirklich neues Terrain betreten zu können – oder zu müssen.
Dem anschließenden Vortrag „Die Inszenierung von Ethnizität in der japanischen Fernsehshow Koko ga hen da yo Nihonjin (1998-2002, dt.: Das geht so nicht, Ihr Japaner!“) von Jan Paul Hoga lag die Frage zugrunde, wie die populäre japanische Unterhaltungsshow Koko ga hen da yo Nihonjin als Produkt eines kommerziellen japanischen Fernsehsenders Angebote zur Erhaltung einer konservativen, auf den Prämissen der Japaner-Theorien (Nihonjinron) basierenden, japanischen nationalen Identität an die Zuschauer bereitstellen kann. Im Zusammenhang von Massenmedien und deren Rolle bei der Formierung nationaler Identität wurde bisher vor allem das Genre der Nihonjinron als Printmedium untersucht. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Unterhaltungsfernsehen, insbesondere mit dem in Japan stark verbreiteten Format der Panel-Show, steht Hoga zufolge in diesem Kontext jedoch noch weitestgehend aus. Gerade dort treten seit nunmehr über zehn Jahren regelmäßig „ganz normale“ Ausländer ohne Star-Status auf, die ihre Sicht über Japan mit einem japanischen Panel diskutieren. In der Show Koko ga hen da yo Nihonjin des privatrechtlichen Senders TBS, die als Ausgangspunkt dieser Art von Fernsehshows gilt, werden zusammen mit und im Kontrast zu den dort auftretenden hundert ausländischen Gästen die Kernfragen der Japaner-Theorien – „Was ist Japan und wer sind die Japaner?“ – auf der kommerziell orientierten Unterhaltungsebene erörtert. Die hundert Ausländer der Show können als das „Fremde“ in Interaktion mit der „eigenen“ Gruppe der japanischen Panellisten und Gäste verstanden werden. Hoga zeigte anhand beispielhafter Videosequenzen der Show auf, wie die USA als gefährliches Land aufgrund von Waffengewalt inszeniert werden. Japans Gesellschaft wird im Gegenzug als sicher und friedlich dargestellt. Das Ausland erscheint damit als Bedrohung, während Japans Bevölkerung in einem „naturgemäß“ sicheren Land lebt. Ein Beispiel aus den Studiodiskussionen verdeutlichte zudem, wie das unbeherrschte Verhalten der heterogenen ausländischen Gäste das harmonische Verhalten der homogenen Gruppe der japanischen Panellisten kontrastiert, die sich selbst als „anders als der Westen“ verstehen. So konnte der Vortrag zeigen, dass die Show inmitten einer Identitätskrise Ende der 1990er Jahre, hervorgerufen durch Wirtschaftskrise und Globalisierung, durch die kontrastive Inszenierung des Auslandes/der Ausländer mit Japan/den Japanern ein konservatives, an den Japaner-Theorien orientiertes Angebot für die Zuschauer schafft, sich ihrer eigenen Identität zu versichern.
Christiane Rühles Vortrag „Botschaften der Dingwesen – Die Bedeutung der ‚Character’-Kommunikation in Japan“ basierte auf ihrer im März 2010 eingereichten Magisterarbeit mit gleichnamigen Titel und gab zunächst einen Überblick über die Aktualität des Themas der Character-Kommunikation, sowie die Zielsetzung, die Forschungsfragen und Thesen der Arbeit. Anschließend veranschaulichte sie die Ergebnisse anhand des Fallbeispiels der regionalen Characters (yuru kyara) „Yubari Fusai“ der Stadt Yubari auf Hokkaido. Ziel der Arbeit war es, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mithilfe von kommunikationswissenschaftlichen Instrumenten der Bedeutung der Characters und deren Aufgaben in der japanischen Gegenwartsgesellschaft nachzugehen. Der Entwurf differenzierter Character-Kategorien („Arbeitende“ und „pure“ Characters) agierte in der vorgestellten Arbeit als zentrales Motiv, in welches in Unterkategorien Fallbeispiele, so genannte „Psychogramme“, zur Veranschaulichung eingebunden wurden. Im Analyseteil wurde untersucht, in welchen Kanälen Characterseingesetzt werden, wer mithilfe welches kommunikatorischen Inhaltes wen erreicht und welchen Effekt dies mit sich bringt.
Die Analyse des Themenkomplexes der Character-Kommunikation in Japan verdeutlichte, dass die Benutzung vonCharacters längst nicht mehr als kindische Spielerei abgetan werden kann, sondern dass diese maßgebliche Positionen in allen Bereichen des japanischen Alltags beziehen. Ob in der Wirtschaft, der Werbung, dem Design-Bereich oder der Politik, ob als Millionen einbringende Zugstücke, einfache Sympathieträger, vermittelnde Medien, Ikonen der Populärkultur (Bsp.: Hello Kitty) oder Trostspender (Bsp.: Tarepanda, Rilakkuma) – die durch den Begriff der iyashi-kyara („‚Seelentröster‘-Characters“) einer eigenen großen Sparte zugeteilt werden – Characters sind in Japan omnipräsent. Dem japanischen Autor Aihara Hiroyuki zufolge – selbst erfolgreicher Illustrator und Character-Designer – ist Japan in den letzten Jahrzehnten mit immer größer werdenden Schritten auf ein „kyara-ka suru Nippon“ („Character‘isierung Japans“) zugegangen. Er bestätigt, was im Alltagsleben des gegenwärtigen Japan überall beobachtet werden kann – Japan ist das Land der Maskottchen und niedlichen Characters.
Den Abschluss des Vortrages bildete die Vorstellung eines speziellen Character-Paares aus dem Bereich der yuru kyara, d.h. regionaler Maskottchen, welche seit Beginn des Jahres 2000 einen steten Beliebtheitsaufstieg erfahren haben. Diese „schwachen“ bzw. „unfertigen“ Characters erlangen derzeit auch im asiatischen Ausland immer größere Popularität. Es würden sogar immer mehr Character-Designer aus Hong Kong dazu tendieren, den Mainstream-Style der japanischen yuru kyara zu imitieren. Man kann daraus schließen, dass es sich hierbei um einen beispiellosen Trend handelt, der so weit voran geschritten ist, dass er sich selbst kopiert, indem professionelleCharacter-Designer und Werbeagenturen so weit gehen ihre Kreationen zu vereinfachen, um sich auf diese Weise dezent in die Reihe des Schlichten und Unkomplizierten einzugliedern und entsprechend davon zu profitieren.
Zusammenfassend wurde von der Vortragenden festgehalten, dass sich die Praxis, Characters für jegliche Art der Repräsentation und somit auch der Kommunikation einzusetzen, in Japan längst durchgesetzt hat. Maskottchen sollen durch gezielte Informationsübermittlung den Betrachter motivieren, selbst aktiv zu werden und sich eingehender mit der Institution oder dem Event zu beschäftigen, selbst wenn es nur der Besuch der Homepage oder des Blogs des Characters ist. Durch das fortdauernde Wiederauftreten eines masukotto werden kommunikatorische Inhalte übermittelt, die sich letztlich in den Köpfen der Betrachter zu bestimmten Images formieren und damit nicht nur ein Image von, sondern eine Beziehung zu der Institution, dem Ereignis oder dem Produkt geschaffen werden kann. Im Fall der ein rurales Spezifikum vertretenden yuru kyara könnte es so zur Entstehung einer regionsbezogenen Identität kommen. Es bleibt daher nicht nur abzuwarten, welche Characters-Kreationen als nächstes entstehen werden, sondern auch in welche vorstellbaren und unvorstellbaren Dimensionen Characters weiterhin vordringen und somit eine nachhaltige Manifestation Japans als „kyara-topia“ besiegeln werden.
Lisa Mundt referierte in ihrem Vortrag „We want ENGEKI to be POP! Populärkultur im japanischen Gegenwartstheater“ über den Einfluss der Populärkultur auf das japanische Gegenwartstheater und gab Einblicke in ihr laufendes Dissertationsprojekt zu Tokyos Off-Theater-Szene. Ausgehend von der Prämisse, dass das japanische Theater vom europäischen realistischen Theater der Jahrhundertwende über Tanz und die darstellenden Künste bis hin zu den Neuen Medien immer wieder die unterschiedlichsten Einflüsse aufgenommen und verarbeitet hat, zeigte sie auf, wie mittlerweile auch die Populärkultur ihren Weg auf die Theaterbühne gefunden hat. So sind etwa Popsongs und Videoinstallationen fester Bestandteil der Bühnenästhetik vieler freier Theatergruppen in Tokyo.
Als Beispiel für die symbiotische Verbindung von Theater und Pop wählte die Referentin die Gruppe faifai, die sich das Universum der japanischen Pop- und Konsumkultur konsequent zum Gestaltungsprinzip gemacht hat. Die Gruppe faifai, beim diesjährigen Zürcher Theaterspektakel für ihr Stück „My Name Is I Love You“ mit dem ZKB Patronage Prize ausgezeichnet, zelebriert auf der Bühne hingebungsvoll und bisweilen anarchisch die glitzernde und von Konsum geprägte Lebenswelt junger Japaner in Tokyo. Grelle Farben, elektronische Musik und ungestüme Tanzchoreografien verbinden sich zu Videoclip-artigen Collagen an der Grenze zum Teenie-Pop. Am Beispiel verschiedener Produktionen von faifai demonstrierte Lisa Mundt, wie Einflüsse der japanischen Populärkultur in den Arbeiten der Gruppe inhaltlich und ästhetisch umgesetzt werden: Das „Prinzip Pop“ nach faifai beinhaltet Rückgriffe auf Pop Art, popkulturelle Versatzstücke wie Barbiepuppen und Handys, Motive aus Alltagskultur, Konsumwelt, Medien und Werbung.
Die Referentin betonte, dass die eigenwillige Ästhetik von faifai nicht als oberflächlicher Pop-Trash zu verstehen sei, sondern vielmehr als pure Anarchie, als ironische Absage an soziale Normen und Moralvorstellungen, sowie an ein betont intellektuelles Mainstream-Theater. Sie schloss ihren Vortrag mit einem theatertheoretischen Exkurs zur Leitfrage ihres Dissertationsprojektes, nämlich wie „Politisches Theater“ heute für Japan zu bestimmen ist. Lisa Mundt bestimmt das Politische des heutigen Theaters nach Hans-Thies Lehmann nicht als Wiedergabe, sondern als Unterbrechung des Politischen. Damit rückt das politische Theater theatergeschichtlich in die Nähe des Happenings, das den Alltag unterbrechen und als Ausnahme, als Unterbrechung des Regelhaften, die Regel (d.h. den Alltag) sichtbar machen und infrage stellen will. Legt man diese ästhetische Praxis der Ausnahme als Kriterium einer Bestimmung des heutigen politischen Theaters zugrunde, wäre das Theater von faifai in höchstem Maße politisch zu verstehen.
In der anschließenden Abschlussdiskussion wurde unter anderem über künftige Themen und Ziele der Fachgruppe Kultur und Medien gesprochen. So wurde angeregt, in einer der nächsten Sitzungen Zeit für eine methodische Grundsatzdiskussion zu aktuellen kulturwissenschaftlichen Fragestellungen einzuplanen, bei der beispielsweise auch Fragen des Kulturbegriffs und seine Übertragbarkeit auf japanologische, die Fachgruppe betreffende Fragestellungen diskutiert werden könnten.
Prof. Dr. Evelyn Schulz (Universität München)