Fachgruppensitzung Politik 2002

Die Fachgruppe Politik traf sich am 23.11.2002 zur Diskussion von drei ausgewählten Themen. Den Anfang machte Anja Osiander (TU Dresden) mit der Vorstellung der „Version 2.0“ ihres in Eigenarbeit konzipierten und durchgeführten (unterrichtsbegleitenden) Selbstlernprogramms zur Politik in Japan.

Anja Osiander sprach über „Politik in Japan: netzgestützt lernen“. Der Vortrag schloß an einen ähnlichen Bericht im Fachgruppentreffen des vorigen Jahres an. An der TU Dresden läuft noch bis Ende 2003 ein vom BMBF gefördertes Projekt zur Entwicklung von Kursen für Sprachausbildung und Landeskunde, die ein an der TU entwickeltes computergestütztes Selbstlernprogramm einsetzen.

Der Vortrag stellte die Weiterentwicklung gegenüber dem Kurs des Vorjahres vor. Im Mittelpunkt des Vortrags stand die Frage, welchen „didaktischen Mehrwert“ der Computereinsatz im Seminar bringt. Die Antwort fällt in mehrfacher Hinsicht positiv aus. Computer zwingen die Autoren der Webseiten und der Aufgaben im Selbstlernprogramm, ihr Denken ausdrücklich und systematisch zu zerlegen. Die Studierenden fügen diese Elemente dann in ihrem Denken wieder zusammen. Beide Seiten werden durch die Maschine also zum Nachdenken gezwungen.

Im Computer können Inhalte multimedial aufbereitet werden. Das aktiviert beide Gehirnhälften und nicht nur das abstrakte Vorstellungsvermögen. Durch den Einsatz des Selbstlernprogramms schließlich wird die eigentliche Faktenvermittlung in die Vorbereitungszeit zwischen den Sitzungen verlegt. In den Sitzungen selbst entsteht damit Raum für andere Formen der Gruppenarbeit, zum Beispiel für Rollenspiele. Die Ergebnisse des Projektes in Dresden stehen allen Interessierten zur Verfügung. Anja Osiander beantwortet gerne alle Fragen dazu.

Im weiteren Programm stellten Winfried Flüchter und Thomas Feldhoff (beide Universität Duisburg) von der Fachgruppe Stadt- und Regionalforschung ihr von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Forschungsprojekt vor:„Japan: Raumwirksame Baulobbytätigkeit im Spannungsfeld zwischen systemischer Stabilität und nachhaltiger Regionalentwicklung“. Das Projekt wird zwar in erster Linie geographisch bearbeitet, weist aber naturgemäß vielfältige Bezüge zur politikwissenschaftlichen Japanforschung auf und ist deshalb für beide Fachgruppen von großem Interesse. Beide Referenten erste Ergebnisse zur Entwicklung der japanischen Bauwirtschaft sowie geplante Fallstudien dar.

Seit 1997 schrumpft der Baumarkt in Japan und die damit einhergehende Krise der Bauindustrie entwickelt sich zusehends zu einem Dauerproblem. Besonders die Lage der öffentlichen Haushalte erscheint heute, nach zehn staatlichen Sonderprogrammen zur Belebung der Konjunktur in den Jahren 1992 bis 2000, alles andere als günstig. Für Zentralregierung, Präfekturen und Gemeinden sind in der Finanzierung öffentlicher Bauinvestitionen wegen der wachsenden Finanznot längst an ihre Grenzen gestoßen. Die reformorientierte Regierung von Ministerpräsident Koizumi verband daher ihren Amtsantritt mit der Ankündigung, einschneidende Kürzungen bei den Investitionen für öffentliche Arbeiten vorzunehmen. Dies trifft die Bauwirtschaft um so härter, als den Gebietskörperschaften als Auftraggeber öffentlicher Bauvorhaben traditionell eine besonders große Bedeutung zukommt. Die Branche gilt zugleich auch als Inbegriff des engen informellen Zusammenspiels von Schlüsselakteuren in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Aufgrund des immer noch großzügig fließenden Schmiermittels öffentlicher Gelder erweist sich dieses Zusammenspiel im Hinblick auf die Bauwirtschaft, so lautete die zentrale These, als ausgesprochen vital. Zur Wahrung ihrer Besitzstände werden die mächtigen Bau-Lobbyisten auch künftig reformerisches Handeln eher lähmen als fördern und mit ihrer an Eigennutz und Status-quo-Erhalt orientierten Einstellung die dringend erforderliche Konsolidierung der Baubranche verzögern.

Die staatlich organisierte Umverteilung von Einkommen durch öffentliche Infrastrukturinvestitionen findet ihren Niederschlag in der Tatsache, dass die ländlichen Präfekturen bei den Bauinvestitionen pro Kopf der Bevölkerung gewöhnlich weitaus besser abschneiden als die Metropolen. Da diese Form raumwirksamer Staatstätigkeit in Japan ökonomisch ineffizient, in vielen Fällen auch ökologisch bedenklich und von der Bevölkerung vor Ort nicht immer akzeptiert ist, erscheint sie unter Aspekten von Nachhaltigkeit höchst problematisch. In diesem Zusammenhang wurden drei Beispiele für zunehmende zivilgesellschaftliche Widerstandspotentiale angeführt, die im Rahmen von Fallstudien genauer zu untersuchen sein werden: die Einpolderung der Isahaya-Bucht (Präfektur Nagasaki), der Bau des neuen Flughafens Kōbe (Präfektur Hyōgo) und das Dammbauprojekt am Yoshino-Fluss (Präfektur Tokushima).

Im letzten Teil der Session berichtete Svenja Bolten (Universität Duisburg) von einem dreimonatigen Praktikum als persönliche Assistentin eines Unterhausabgeordneten der LDP in Tokyo. Dieser sehr persönliche und in jeder Hinsicht nahe und dichte Bericht (mit zahlreichen Photos zur Illustration) offenbarte eine beeindruckende Szenerie des politischen Alltags hinter den Kulissen des parlamentarischen Plenarsaals. Frau Bolten stellte „ihren“ Abgeordneten zunächst als Individuum mit einer für einen Politiker recht außergewöhnlichen Biographie dar. Seine Erfahrungen im frühen Berufsleben – Unterhaltungsbranche – prägten ihn nachhaltig und die größte Zäsur in seinem Leben – ein Ereignis, das zu seiner Querschnittslähmung führte – wurde gleichzeitig auch der Fokus seiner politischen Reformbemühungen. Die Darstellung machte deutlich, wie stark persönliche Erfahrung und politisch-programmatische Ambitionen von Berufspolitikern zusammen fließen.

Die Begleitung des Abgeordneten offenbarte aber auch die fließenden Grenzen zwischen formeller und informeller Politik. Die Koordination der Abgeordneten in Tokyo von nationalen politischen Belangen einerseits und Anliegen des eigenen Wahlkreises andererseits hängt, so wurde deutlich, nicht nur von der richtigen Pflege der persönlichen Unterstützungsorganisationen (kôenkai), sondern in hohem Maße auch vom reibungslosen Funktionieren eines individuellen „Apparates“ ab. Im Falle des vorgestellten Abgeordneten wurden die Koordinations-, Organisations- und Vermittlungsaufgaben eines solchen Apparates zu einem großen Teil von Familienangehörigen übernommen. Der vielgescholtene Faktionalismus in der LDP erwies sich nach wie vor als wichtiges Bezugssystem, ohne dabei die Kohärenz der Gesamtpartei abzuwerten. Die Fronten zwischen Oppositionspartei(en) und LDP wurden von Frau Bolten an einigen prägnanten Beispielen aufgezeigt. Dass die Opposition angesichts der Mehrheitsverhältnisse im japanischen Parlament für die LDP aber (noch) keine ernsthafte Gefahr darzustellen scheint, wurde durch die Beispiele ebenfalls deutlich. Nationale Sentimente, die Opposition wie Regierung miteinander verbinden, offenbarten sich bei der Behandlung eines zentralen politischen und gesellschaftlichen Themas: der Heimkehr einiger entführter JapanerInnen aus Nordkorea. Frau Bolten lüftete zwar keine Geheimnisse wie den Namen des kommenden Ministerpräsidenten oder hätte gar den nächsten politischen Skandal vorausgesagt; ihre geschilderten Erfahrungen aber haben den Blick hinter die Kulissen des Parlamentes enorm erweitert.