Fachgruppensitzung Politik 2012
Das diesjährige Treffen der Fachgruppe bot einerseits Gelegenheit zur Diskussion laufender Forschungsprojekte aus dem Bereich der politikwissenschaftlichen Forschung zu Japan, zum anderen wurde das Thema der Jahrestagung im Rahmen einer Paneldiskussion weiter vertieft. Insgesamt verliefen die Diskussionen sehr lebhaft und produktiv, auch wenn der Teilnehmerkreis vor dem Hintergrund der insgesamt recht geringen Teilnehmerzahl der Jahrestagung im Vergleich zu anderen VSJF-Konferenzen mit insgesamt 16 Teilnehmern klein war. Die Fachgruppensitzung wurde von Verena Blechinger-Talcott (FU Berlin), Kerstin Lukner (Universität Duisburg-Essen) und Gabriele Vogt (Universität Hamburg) organisiert und geleitet.
Im ersten Beitrag stellte Matthias Hennings (Universität Tübingen) sein gerade abgeschlossenes Dissertationsprojekt “Leiharbeiter in Deutschland und Japan. Ein interkultureller Vergleich einer atypischen Beschäftigungsform” vor. Seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, in der Tausende Leiharbeiter in kürzester Zeit ihre Jobs verloren, ist Leiharbeit zu einem gesellschaftspolitischen Thema geworden, über das breit diskutiert und heftig debattiert wird. Während Leiharbeit einerseits das Flexibilitätspotential der Betriebe erweitert, gilt diese Beschäftigungsform andererseits als risikoreicher und minderwertiger als ein reguläres Arbeitsverhältnis. Die Dissertation von Matthias Hennings untersucht, in wie weit diese Aussage für Deutschland und Japan zutrifft. Dazu wird verglichen, wie Leiharbeit in beiden Ländern genutzt und geregelt wird, welche Chancen und Risiken dadurch für Leiharbeiter entstehen und welche strukturellen Unterschiede es zwischen deutschen und japanischen Leiharbeitern gibt. Neben einer Auswertung der Forschungsliteratur sowie der zentralen Gesetze zur Regelung von Leiharbeit, die den Rahmen der Untersuchung bildet, geht es Hennings dabei vor allem darum herauszufinden, wie Leiharbeit von den Betroffenen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten wahrgenommen wird. Dazu wurden in einer Fallstudie bei einem großen Fahrzeughersteller in Deutschland und Japan über 100 Leiharbeiter befragt und die Ergebnisse statistisch ausgewertet. Die Untersuchung zeigt, dass diese Beschäftigungsform, die in beiden Ländern seit den 1990er Jahren stark zugenommen hat, entgegen dem Bild in den Medien, von Leiharbeitern in Deutschland weitaus positiver wahrgenommen wird als von ihren japanischen Kollegen. Als Erklärung für diese unterschiedliche Bewertung kommen vor allem zwei Faktoren in Betracht: der Bildungs- und Ausbildungshintergrund der Leiharbeiter und die Alternativen zur Leiharbeit, die sich aus Sicht der Betroffenen vor allem aus der Beschäftigungssituation von Personen mit ähnlichem Bildungshintergrund ableitet. Japanische Leiharbeiter können in der Regel einen höheren Schulabschluss vorweisen als ihre deutschen Kollegen. Während sich unter japanischen Leiharbeitern eine hohe Akademikerquote feststellen lässt und die Beschäftigung als Leiharbeiter eher als Scheitern angesehen wird, ist der Großteil der deutschen Leiharbeiter ohne Ausbildung und war bereits über längere Zeit arbeitslos. Vor dem Hintergrund des nach wie vor geltenden Ideals der lebenslangen Beschäftigung betrachten japanische Leiharbeiter ihre Beschäftigungsform überwiegend negativ, während deutsche Leiharbeiter dies eher als zweite Chance empfinden. In der Diskussion wurden neben methodischen Fragen vor allem die Genderdimension der Leiharbeit in Deutschland und Japan besprochen, ebenso die Organisation von Leiharbeit und Fragen prekärer Arbeitsverhältnisse in Deutschland und Japan.
Der zweite Beitrag von Phoebe Holdgrün (Deutsches Institut für Japanstudien, Tokio) war überschrieben mit “Politische Partizipation bringt Wohlbefinden? Aktivisten nach 3/11″. Im Rahmen des DIJ-Forschungsschwerpunkts “Glück in Japan” untersucht sie anhand des Fallbeispiels von Eltern, die nach dem Atomunfall im AKW Fukushima politisch aktiv geworden sind, den Zusammenhang zwischen politischer Partizipation und individuellem Wohlbefinden. Seit der dreifachen Katastrophe vom 11. März 2011 haben viele Bürger in Japan, die vorher nicht politisch interessiert oder aktiv waren, begonnen, sich an der Bewegung gegen Atomenergie und zum Schutz vor Radioaktivität zu beteiligen. Sichtbar wird das beispielsweise bei Protestveranstaltungen wie dem Demonstrationszug durch Tokio am 16. Juli 2012, an der 170.000 Menschen teilnahmen. Holdgrün fragt danach, wie die Beteiligung an Demonstrationen, aber auch an anderen Formen politischen Engagements, wie z.B. Elterngruppen oder Anti-AKW-Gruppen, sich auf die Selbstwahrnehmung der Aktivisten auswirkt. In der Forschungsliteratur hebt z. B. das Konzept des Prozessnutzens (procedural utility) hervor, dass nicht nur der Inhalt von (politischen) Entscheidungen eine Rolle für die Reflexion der Bürger spielt, sondern auch die Frage, wie diese Entscheidungen getroffen wurden. Das Gefühl, zu einer politischen Veränderung wenn auch nur in kleinem Maße beigetragen zu haben, kann bei politisch aktiven Bürgern positive Effekte erzielen, die vom Wissensgewinn bis hin zur Gewissheit reichen können, mit ihren Bedürfnissen ernst genommen worden zu sein, und damit ihr subjektives Wohlbefinden steigern. Holdgrün stellte ihr Projektdesign zur Diskussion, das auf einem Methodenmix aus Dokumentenanalyse, teilnehmender Beobachtung und leitfadengestützten Interviews basiert. Untersucht werden sollen drei unterschiedliche Gruppentypen: Teilnehmer an Demonstrationen und Protestaktionen, Mitglieder der neu gegründeten Grünen Partei Japans sowie lokale Aktivisten, vor allem besorgte Eltern, die sich zu Initiativen zusammenschließen. Erste explorative Interviews zeigten, dass die Beteiligten in erster Linie Zufriedenheit aus dem Zusammenschluss mit Gleichgesinnten zogen und sich ebenfalls positiv über den seit Beginn ihres Engagements gewachsenen Kompetenzgewinn (Faktenwissen, Kenntnisse im Hinblick auf politische Partizipationsformen) äußerten, auch wenn gleichzeitig im Hinblick auf die Frage der Erreichbarkeit von Reformen eher negative Emotionen deutlich wurden. In der Diskussion wurden insbesondere die Bruchlinien zwischen den formalen politischen Institutionen (Regierung, Parlament) und den neuen Gruppen von Aktivisten thematisiert. Ebenso wurde nach der Bedeutung von Emotion für die politische Mobilisierung und auch der “Schwelle” gefragt, ab der individuelle Unzufriedenheit zu politischem Protest führt. Auch die Nachhaltigkeit des aus individuellen Emotionen gespeisten Protests wurde thematisiert.
Im letzten Beitrag der ersten Sitzung stellte Sven Matthiesen (Universität Heidelberg) sein Projekt mit dem Titel “Japanese Pan-Asianism and Japanese-Philippine Relations, 1945–1990″ vor. In diesem englischsprachigen Vortrag führte Matthiesen zwei Diskussionsstränge zusammen: zum einen ging es ihm um eine Untersuchung der Beziehungen zwischen Japan und den Philippinen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Auf der anderen Seite wollte er untersuchen, ob und auf welche Weise panasiatische Ideen auch unter den Intellektuellen im Nachkriegsjapan noch eine Rolle spielten. Die Philippinen boten sich hier als Beispiel an, da sie ähnlich wie Japan nach 1945 einen Teil des von den USA aufgebauten “antikommunistischen Bollwerks” in Ostasien bildeten und ähnlich wie Japan in ihrer Sicherheitspolitik eng an den USA gebunden waren. Auf dieser Grundlage war auch die Aussöhnung zwischen den beiden Staaten nach 1945 nicht nur eine bilaterale, sondern eine die USA mit involvierende Angelegenheit. Im Vortrag zeigte Matthiesen anhand einiger Zitate auf, dass sich führende Vertreter des japanischen Panasianismus, die auch enge Bezüge zu den Philippinen aufwiesen, wie z.B. Rōyama Masamichi (1895–1980) oder Takeuchi Yoshimi (1910–1977), aber auch der Journalist Honda Katsuichi zu Fragen regionaler Politik und zur Bedeutung panasiatischer Ideen äußerten und fragte danach, ob und auf welche Weise in Japan nach 1945 panasiatische Diskurse weitergeführt wurden. Dies stellte er in Kontrast zu philippinischem Nationalismus, der insbesondere Japan zunehmend kritisch betrachtete. Die Diskussion befasste sich vor allem mit der Frage, ob man in der Tat von panasiatischen Bewegungen im Nachkriegsjapan sprechen könne und auf welche Weise Kontinuitäten zwischen der Kriegs- und der Nachkriegszeit feststellbar sind. Ebenso wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Pan-Bewegungen (Pan-Arabismus, Pan-Asiatismus) sowie deren politische Prägungen und Bezüge, insbesondere zur politischen Linken, thematisiert.
In der abschließenden Paneldiskussion wurde über kurze Vorstellungen aktueller Forschungsprojekte das Thema der Jahrestagung, die Beziehungen zwischen Japan und Südostasien, aus dem Blickwinkel verschiedener Politikbereiche, insbesondere der Migrationsforschung, der Frage regionaler Governance-Probleme im Kontext neuer Pandemien und der Außenwirtschaftspolitik, insbesondere in Bezug auf Agrarprodukte, vertiefend diskutiert. In jeweils fünfminütigen Kurzbeiträgen wurden dabei die folgenden Projekte vorgestellt: “States, Markets and Globalization. A Look at the Flower Trade between Japan and Southeast Asia” (Verena Blechinger-Talcott, FU Berlin), “Jointly Facing Pandemic Risks: Japan and ASEAN” (Kerstin Lukner, Universität Duisburg-Essen) und “People on the Move: Labor Migration from Southeast Asian Nations to Japan” (Gabriele Vogt, Universität Hamburg).
Verena Blechinger-Talcott (FU Berlin), Kerstin Lukner (Universität Duisburg-Essen), Gabriele Vogt (Universität Hamburg)