Fachgruppensitzung Soziologie und Sozialanthropologie 2015

Nach einer kurzen Begrüßung durch die Fachgruppenleiter und der üblichen Vorstellungsrunde wurden in diesem Jahr fünf Projekte vorgestellt.

Zu Beginn präsentierte Christoph Brumann vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle seine Beobachtungen und Analysen zur diesjährigen Sitzung des UNESCO-Welterbekomitees in Bonn. Dort ging es in einer diplomatischen Auseinandersetzung um eine Gruppe von Industrieanlagen aus der Bakumatsu- und Meiji-Zeit, welche den japanischen Welterbekandidaten darstellten. Der Kern der Auseinandersetzung lag darin, dass Südkorea bei der Nominierung dieser Anlagen das Verschweigen der Beschäftigung von koreanischen Zwangsarbeitern dort monierte. Das Besondere an diesem Vorgang war, so Brumann, dass die Auseinandersetzung mit einer so noch nicht da gewesenen japanischen Erklärung zur koreanischen Zwangsarbeit endete, welche wiederum heftige LDP-Kritik sowie beträchtliche bilaterale Verstimmungen auslöste. Neben anderen Punkten erklärte Brumann, dass es möglicherweise eine sprachliche Fehleinschätzung seitens der Japaner war, die zu dieser Erklärung führte. Im Hinblick auf die hohe Wertschätzung für Welterbestätten in Japan sowie weitere Bewerbungen Japans, die für Konfliktpotential auch zwischen Japan und China sorgen, bleibt dies ein wichtiges Thema.

Als zweiter Vortragender berichtete Simon Essler von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf über sein laufendes Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel: „Wertewandel in der Arbeitswelt – Japan auf dem Weg zu einer ‚Freizeitgesellschaft’?“. Essler berichtete von seinem Feldforschungsaufenthalt in einem japanischen KMU in der Region Tsuruga in der Präfektur Fukui, wo er neben teilnehmender Beobachtung auch informelle Interviews durchführte. Das Kernanliegen seiner Dissertation ist die Frage, in wieweit sich der empirisch belegte Wertewandel in Bezug auf Arbeit und Freizeit konkret innerhalb und außerhalb einzelner Betriebe äußert. Seine Feldforschung ergab für seine untersuchte Fallstudie, dass „traditionelle“ Grauzonen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, wie das halb informelle regelmäßige Trinkengehen mit den Arbeitskollegen, nunmehr eine untergeordnete Rolle spielen. Er führt dies jedoch nicht nur auf einen Wertewandel zurück, sondern auch auf wirtschaftliche Kontraktionen, woraufhin japanische Unternehmen solche Aktivitäten nicht weiter finanziell unterstützten.

Nach einer kurzen Kaffeepause stellte Timo Thelen, ebenfalls von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, sein laufendes Promotionsvorhaben vor. Unter dem Titel „Wem nützt Harmonie mit der Natur? Eine Dekonstruktion von Satoyama Satoumi“ präsentierte Thelen die Konstruktion der Begriffe Satoyama und Satoumi im Kontext der internationalen Umweltdiskurse und Bemühungen der japanischen Regierung um ein „grüneres“ Image nach dem Reaktorunfall in Fukushima 2011. Anhand von Interviews mit Austernzüchtern und Ama-Taucherinnen, die Thelen während seines Forschungsaufenthaltes auf der Noto-Halbinsel (Präfektur Ishikawa) führte, untersucht er den wechselseitigen Einfluss des Diskurses um das Konzept Satoyama Satoumi auf die lokale Bevölkerung. Thelen legte dar, wie die Vorstellungen der Regierung und die Studien vieler Forscher oftmals nur eine beschränkte und romantisierende Sichtweise wiedergeben, von der die lokale Bevölkerung bisher kaum profitieren konnte.

Ein weiteres Thema aus dem Bereich der Rural Sociology beleuchtete Wolfram Manzenreiter (Universität Wien), der neue Ansätze und Ergebnisse zu einem langjährig laufenden Projekt vorstellte. Hierbei handelt es sich um das vor 50 Jahren von Wiener Japanologen ins Leben gerufene „Aso-Projekt“ (Präfektur Kumamoto), das ursprünglich der Rekalibrierung der Methodik von Gemeindestudien in der Japanologie dienen sollte. Im aktuellen „Aso 2.0“-Projekt widmet sich Manzenreiter der Frage des subjektiven Wohlbefindens dieser ländlichen Region im Lichte des „rural decline“ der vergangenen Jahre. Anhand von Daten des Kumamoto Happiness Index (2012-2014) zeigte Manzenreiter, dass die Bevölkerung der Präfektur Kumamoto im Allgemeinen ein hohes Glücksempfinden hatte, was sich unter anderem in Bezug auf die Aspekte der Lebensmittelsicherheit und Gemeinschaft manifestierte, während die anderen untersuchten Bereiche ein ähnliches Niveau wie urbane Gebiete erreichten. Überdies wies Manzenreiter auf methodische Probleme des vorliegenden Datensatzes hin und schlug als Lösung einen Methodenmix vor, um die Forschungsfrage weiterhin nachhaltig zu bearbeiten.

Die Sitzung schloss mit einem weiteren Dissertationsvorhaben, das Ludgera Lewerich von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf vorstellte. Auch sie befasste sich mit einem wichtigen Thema der Rural Sociology, nämlich der Frage nach Sinnsuche und Selbstverwirklichung in den autobiographischen Erzählungen von U/I-Turnern im ländlichen Japan. Im Kontext der Depopulation und des Rural Decline möchte Lewerich alternative Lebensentwürfe und subjektive Erfahrungswelten von jungen Menschen untersuchen, die sich neu auf dem Land niederlassen. Kernfragen, die ihre geplante Feldforschung leiten, sind u.a.: „Wie erzählen I/U-Turner ihre Geschichte? Welche Ziele und Wünsche gibt es? Inwiefern spielen idealisierte und romantisierte Vorstellungen von Natur und ländlichem Japan eine Rolle?“ Methodisch wird Lewerich ihre Analyse auf teilnehmende Beobachtung sowie narrative Interviews stützen und sieht Anknüpfungspunkte gerade in den aktuellen Bereichen der Lebensstilforschung, Fragen der Wertepluralisierung, sowie den Möglichkeiten und Grenzen ländlicher Revitalisierung.

Bei allen Vorträgen zeigte sich, dass die Erforschung des ländlichen Raumes weiter an Bedeutung gewinnt. In diesem Zusammenhang waren sich die Teilnehmer einig, dass eine stärkere Verknüpfung mit der Fachgruppe „Stadtsoziologie“ in den kommenden Jahren wünschenswert wäre, insbesondere weil sich deutliche thematische Anschlusspunkte abzeichnen.

Dr. Julia Obinger (SOAS London)