Fachgruppensitzung Stadt- und Regionalforschung + Soziologie und Sozialanthropologie 2016

Im Rahmen der Jahrestagung 2016 der Vereinigung für Sozialwissenschaftliche Japanforschung am Campus Duisburg der Universität Duisburg-Essen fand am 20. November 2016 das Vortragsprogramm der Fachgruppe Stadt- und Regionalforschung in Kooperation mit der Fachgruppe Soziologie und Sozialanthropologie statt.

Rene Paul (Frankfurt am Main) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der „Liberalisierung des Elektrizitätsmarktes in Japan“ – einem sehr aktuellen und noch wenig erforschten Thema, das Gegenstand seiner Masterarbeit ist. Es gibt noch kaum Literatur zu der Situation in Japan abseits von Zeitungsartikeln, die als wichtigste Quelle für aktuelle Informationen seitens der japanischen Regierung gelten. In seinem Vortrag ging Rene Paul zunächst auf die Geschichte des japanischen Elektrizitätsmarktes ein, damit die Rolle und das Ausmaß der Liberalisierung verständlich werden. Es folgte ein kurzer Abriss der Energiepolitik der Regierung Japans, die wichtig ist zum Verständnis der aktuellen Situation aufgrund der damit begründeten Pfadabhängigkeiten bzw. Entwicklungsbrüche. Danach behandelte er das Thema der aktuellen Reform des Marktes und versuchte aufzuzeigen, was der ökonomische Nutzen für die Verbraucher bzw. die Gesellschaft insgesamt ist und ob überhaupt von einer Liberalisierung gesprochen werden kann – wenn das „Eiserne Dreieck“ fortbesteht und Strom über einen Zwischenhändler an den Kunden weiterverkauft wird, Übertragungsstrukturen jedoch weiterhin von den früheren Monopolfirmen beherrscht werden und auch die Erzeugerstruktur im Wesentlichen unverändert bleibt. Daher ist es künftig interessant zu klären, ob die selbst gesteckten Ziele der Regierung mit den jetzigen Reformen überhaupt verwirklicht werden können und welche Erkenntnisse es aus Ländern wie Deutschland oder Großbritannien gibt, da die Langzeitauswirkungen der Liberalisierungen in diesen Ländern schon ausreichend erschlossen sind. Zu klären ist auch, ob ein Anstieg der erneuerbaren Energien erfolgen kann, wenn man den Endverbrauchern die Möglichkeit gibt, sich bewusst für grüne Strom-anbieter zu entscheiden – und damit auch ein Ventil öffnet, Frust über die Fukushima Daiichi-Katastrophe auszudrücken bzw. eine klare Position gegen die Atomkraft einzunehmen. Erst langsam kristallisieren sich neue Tendenzen des Verbraucherverhaltens heraus, quantitative Auswertungen zu verschiedenen Themen wie Vertragswechsel und Stromkostenersparnis müssen noch vorgenommen werden.

Mit ihrem Beitrag „Intergenerationelle Pflege im Kontext der Migration zwischen Insel und Festland – Ergebnisse einer Feldforschung auf der Insel Sado“ stellte Rhea Braunwalder (Göttingen) die Ergebnisse ihrer MA-Arbeit zu intergenerationel-len Pflegebeziehungen im ländlichen Japan vor. Die Arbeit basiert auf biografischen Interviews und teilnehmenden Beobachtungen in fünf Haushalten, die im Sommer 2016 während einer Feldforschung auf der Insel Sado erhoben wurden. Anhand eines empirischen Beispiels, der Pflege von Kindern durch Großmütter, stellte sie im Vortrag dar, wie Menschen – im Wissen um die Entvölkerung und die Migration zwischen Insel und Festland – Pflegevereinbarungen ausführen und untereinander verhandeln. Aus ihren Daten schloss sie, dass Pflege, verstanden als sozial anerkanntes Recht, welches einem Menschen in bestimmten Lebensphasen zusteht, Teil eines impliziten, intergenerationellen Vertrages auf Lebensdauer sei. In ihm zirkulierten Pflege, Objekte (z. B. Häuser, Autos, Land), Rechte und Pflichten zwischen Famili-enmitgliedern verschiedener Generationen. Möglichkeiten, diesen Vertrag zu gestalten und zu verhandeln, gebe es. Der Vertrag an sich bleibe jedoch wenig umstritten. In der anschließenden Diskussion wurden Fragen zur geschlechtlichen Rollenverteilung und zum Konfliktpotential in der Pflege aufgeworfen. Bezüglich der Geschlechterrollen konstatierte Braunwalder, dass oft männliche Familienmitglieder Verantwortung für die Pflege trügen und weibliche Familienmitglieder die Ausführung der Pflege übernähmen. Jedoch sei hervorzuheben, dass bei jüngeren Generationen in Doppelverdienerhaushalten männliche Familienmitglieder verstärkt bei der Pflege beteiligt seien. Darüber hinaus stellte sie fest, dass das Konfliktpotential bei Familien, in denen ältere Generationen an der Pflege ihrer Enkel beteiligt waren, geringer war, da die Großeltern eine Aufgabe innerhalb der Familie hatten. Schlussendlich wurden strukturelle Rahmenbedingungen im Bereich der öffentlichen Pflege und Arbeitsbe-dingungen, die die Möglichkeiten der Familienmitglieder beeinflussen, diskutiert.

Um „Traditionelle Einkaufspassagen in Japans Einzelhandelslandschaft: Räumliche Strukturen, Prozesse und Konsequenzen“ ging es in dem Beitrag von Sascha Dolezal (Würzburg). Mangelnde Kundennachfrage, erhöhte Konkurrenzsituation, steigende Steuerabgaben oder fehlende Nachfolger sind Probleme, mit denen viele Geschäftsinhaber in traditionellen Einkaufspassagen Japans konfrontiert sind. Um die momentane Situation dieser Passagen aufzuzeigen und der Frage nachzugehen, welchen Herausforderungen diese zukünftig gegenüber stehen, kartierte Dolezal von Juni 2015 bis März 2016 in Osaka und Kyoto 26 Einkaufspassagen mit insgesamt 3.576 Geschäftsflächen. Im Anschluss daran führte er in acht dieser Einkaufspassagen eine standardisierte Inhaberbefragung durch, an welcher 516 Geschäfte teilnahmen. Neben der Erfassung von Grunddaten wurden die Besitzer gebeten, auch zu zukünftigen Entwicklungen, allen voran zu potenziellen Nachfolgern, Stellung zu beziehen. Zudem wurden Interviews mit Shōtengai-Vereinen und Vertretern der Stadtplanung geführt. Mehr als ein Drittel der Geschäftsinhaber plant, in den nächsten fünf Jahren die Geschäftsführung aufzugeben, zwei Drittel von ihnen haben keinen Nachfolger für ihr Geschäft. Aufgrund der teilweise hohen Leerstandsquoten (bis über 50 %) und der kompletten Geschäftsaufgabe vieler Inhaber droht einigen Einkaufspassagen damit eine weitere Abwärtsentwicklung. Die Mikrolage der jeweiligen Passagen und Inhaberaktivitäten spielen eine entscheidende Rolle für deren zukünftigen Entwicklungschancen. Einige Immobiliengesellschaften nutzen dies für ihre Zwecke und erwerben Grundstücke mit dem Ziel des Umbaus zu großflächigen Wohnhäusern. Die Einkaufspassage erfährt dadurch einen Funktionswandel und verliert zunehmend ihren ursprünglichen Charakter. Zugleich könnte diese Umstrukturierung den bestehenden Geschäften neue Konsumenten einbringen und bestehende Strukturen stärken. In der dem Vortrag folgenden Diskussion wurde angemerkt, dass damit in Shōtengai wohl auch Gentrifizierungsprozesse erkennbar seien. So werden gerade in innerstädtischen Bereichen ältere und weniger vermögende Personen durch den Zuzug Wohlhabenderer verdrängt. Da Shōtengai oft in der Nähe von Bahnhöfen vorzufinden sind, befinden diese sich auch gleichzeitig in nachfragestarken Gebieten. Durch den Bau neuer moderner Wohngebäude verändert sich mit steigenden Mietpreisen die sozioökonomische Struktur des Stadtbezirks.

Jana Katzenberg (Köln) thematisierte mit „Moderaum Harajuku: Nutzungsprakti-ken, sozialer Raum und Mediendiskurs“ die Stadt Tokyo als Sitz von Modema-chern und Modepresse. Besonders interessant seien einzelne Bereiche innerhalb des Stadtgebietes, die als konkrete Anziehungs- und Blickpunkte agierten. Ein Bei-spiel hierfür ist Harajuku, das gleichzeitig bei internationalen Luxusmarken beliebt ist, aber auch als Nährboden für junge kreative Mode sowie die neuesten Lifestyletrends gilt. Medial wird das Viertel zur Kulisse für Modeshootings, fungiert aber für einige Magazine auch als Stilbezeichnung oder dient Werbeindustrie und Fernsehen als Präsentationsfläche für Neueröffnungen und Trendberichte. Der physische Raum Harajuku ist im Vergleich zu dieser Überpräsenz klein, hat als Bestandteil von Shibuya-ku nicht einmal einen festgelegten Adressbereich. Trotz alledem bleibt das Gebiet um die gleichnamigen Bahnhöfe ein beliebtes Ziel für in- und ausländische Modeinteressierte und Touristen. Diese zum Teil sehr unterschiedlichen Besuchergruppen nutzen den beschränkten Raum jeweils auf ihre Weise und schaffen sich passende mentale Karten. Die hierbei zu beobachtenden Prozesse können wichtige Hinweise darauf geben, wie Moderichtungen und Trends parallel zueinander entstehen und verhandelt werden. Als Teil ihrer Dissertation nimmt Katzenberg M. D. Certeaus Nutzungspraktiken im sozialen Raum unter Berücksichtigung des von K. Namba beobachteten „mentalen Mapping“ von Moden auf der Straße als Grundlage für eine Medienanalyse, um sich einer Definition des Modebegriffs in Japan anzunähern. Ihr Vortrag fasste die bisherige Anwendung der Theorien auf Harajuku zusammen: Aufbauend auf ersten Analysen von vor Ort eingesammelten allgemeinen Karten für Touristen konnte sie eine grobe Kartographierung des allgemein so bezeichneten Bereichs durchführen. In einem zweiten Schritt kombinierte sie stadtgeschichtliche Ereignisse mit Karten und Darstellungen des Viertels in Modemagazinen. Durch dieses Vorgehen ließ sich ein Überblick über zentrale Faktoren gewinnen, welche die Entwicklung von Harajuku zum heutigen Moderaum mit beeinflusst haben. Nachdem der Status Quo, also das Image Harajukus als modischer, junger Verbindungspunkt zwischen Binnenmarkt und internationaler Mode nachvollziehbar gemacht wurde, wird sich Katzenberg im Weiteren den Netzwerken zuwenden, über welche die mental maps verhandelt werden und die so Harajuku zur Geburtsstätte von stetig neuen Ideen machen. Die Diskussion im Anschluss an ihren Vortrag bestätigte sie zudem, dass es sich lohnen kann, Harajuku noch ausführlicher zu kartographieren, um die Nutzergruppen noch besser zu verstehen und etwa ihre Hauptbesuchszeiten herauszufinden oder die weitere Entwicklung der Grenzen des weiterhin nicht klar umrissenen Viertels zu prüfen.

Abschließend berichtete Johannes Wilhelm (Wien) über den Feldforschungsaufenthalt eines Teams der Abteilung für Ostasienwissenschaften der Universität Wien in Nishiteno (Aso City, Präfektur Kumamoto) im September 2016 im Rahmen des Projektes „Aso 2.1“. Unmittelbar vor dem Aufenthalt stellte das Team im Rahmen eines Symposiums der japanischen Gesellschaft für Regionalpolitik (Außenstelle Kyushu/ Okinawa) am 15.9.2016 an der Universität Kumamoto das Projekt einem breiteren Publikum vor. Der Feldaufenthalt stellte die erste Fortsetzung der Aso-Studien von Alexander Slawik, Josef Kreiner und Erich Pauer und anderen in den Jahren 1968-1969 dar. Die zwei wichtigsten Ziele des Aufenthaltes lauteten wie folgt: Erstens sollte ein vertrauensvolles Verhältnis mit den Bewohnern Nishitenos für künftige Studien aufgebaut werden. Dies erfolgte u.a. im Zuge einer Photoshow am Tag der Senioren (keirō no hi) im Gemeindehaus, wo Aufnahmen von Kreiner und Pauer gezeigt wurden. Die Bewohner reagierten äußerst emotional, was das Team selbst auch sehr bewegte. Zweitens sollte auf der Grundlage der von Kreiner und Pauer im gesammelten Haushaltsdaten, die leider nie veröffentlicht wurden, untersucht werden, wie sich die nachbarschaftlichen Beziehungen insbesondere bezüglich der sog. kumi-Gruppen verändert haben. Auf der Grundlage eines von Ueno Shinya, Universität Kumamoto, für das Agrarministerium erstellten Surveys über Sozialkapital in Amakusa haben J. Wilhelm und W. Manzenreiter eine angepasste Fassung für Nishiteno vorbereitet, die von J. Wilhelm und H. Raab in Yagisawa (Kamikoani, Akita Präfektur) im August 2016 im Rahmen eines Pretests weiterentwickelt wurde. Auf Grundlage dessen wurden halbstrukturierte Interviews durchgeführt, die einen ersten Einblick in die lokalen sozialen Netzwerke erlauben. B. Holthus und W. Manzenreiter hatten zuvor Aso im August 2016 besucht, um mit Offiziellen und mit dem Dorfvorsteher von Nishiteno Kontakt zu knüpfen, während J. Wilhelms Aufenthalt in Kumamoto vom 5.9. detailliertere Vorbereitungen für einen reibungslosen Aufenthalt umfasste, wie die Benachrichtigung von Lokalmedien, Terminfestlegungen, aber auch eine detaillierte Aufarbeitung der Umfragebögen von Kreiner/Pauer. Während sich das Team vor allem mit den sozialen Netzwerken und familiären Umständen befasste, konzentrierte sich Wilhelm auf lokale Institutionen und Organisationen wie die Dorfversammlung, die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, die zeremonielle ujiko-Gruppe, die freiwillige Feuerwehr oder die exklusivere Dorfverschönerungsgruppe, sowie die Statuten der einzelnen Gruppen. Als ein erstes Ergebnis konnte Wilhelm einen institutionellen Anpassungsprozess um 1987 identifizieren, als die Dorfversammlung in Reaktion auf die Alterung der Bewohnerschaft die männlichen High-School-Schüler als volle Mitglieder integrierte. Ein weiteres interessantes Ergebnis war die territoriale Auflösung von kumi-Gruppen, deren sozialen Bindungen noch heute mit Nutzungsrechten der Wiesen an der Somma über dem Weiler zusammenhängen. Manzenreiter und Wilhelm planen für 2017 eine weitere Untersuchung der zeitgenössischen Managementpraktiken des Allmendegrünlands auf der Somma, um das Verhältnis zwischen lokalen Gruppen (kumi) besser zu verstehen.

Thomas Feldhoff (Universität Bochum)