VSJF-Preis 2021
Isabel Fassbender
Fassbender, Isabel (2019): „Familien- und Lebensplanung im gegenwärtigen Japan. Das Phänomen ‘Schwangerschaftsaktivitäten (ninkatsu)‘ und seine Stakeholder“. In: Schad-Seifert, Anette; Kottmann, Nora (Hrsg.): Japan in der Krise, Soziale Herausforderungen und Bewältigungsstrategien, Wiesbaden: Springer, Printausgabe, S.171-194.
Laudatio
Die Jury war sehr angetan von dem hohen Niveau der 13 eingereichten, thematisch breit gefächterten Beiträge, mehr als doppelt so viel wie bei den letzten Ausschreibungsrunden. Aus allen diesen Einreichungen haben wir Neues und Unerwartetes gelernt; jede trägt zu unserem Verständnis der modernen japanischen Gesellschaft bei. Gleichwohl stach ein Beitrag heraus, und wir sind uns einig, dass der VSJF-Preis für den besten sozialwissenschaftlichen Aufsatz in deutscher Sprache aus den Jahren 2019 und 2020 Frau Dr. Isabel Fassbender gebührt. Der Aufsatz trägt den Titel „Familien- und Lebensplanung im gegenwärtigen Japan: Das Phänomen ‚Schwangerschaftsaktivitäten (ninkatsu)‘ und seine Stakeholder“. Erschienen ist er im Sammelband Japan in der Krise: Soziale Herausforderungen und Bewältigungsstrategien 2019, herausgegeben von Annette Schad-Seifert und Nora Kottmann.
Der Aufsatz analysiert das Diskursfeld der ninkatsu, also der Schwangerschaftsaktivitäten, ein Neologismus, der in Analogie zu ähnlichen Wörtern wie shûkatsu (Aktivitäten zur Arbeitsplatzsuche) gebildet worden ist. In der Presse und im politischen Diskurs bezeichnet er eine bewusste und möglichst frühzeitige Auseinandersetzung mit dem Thema Familienplanung, die jungen Japanerinnen angetragen wird. Ihnen wird, natürlich vor dem Hintergrund einer historisch niedrigen Geburtenrate, nahegelegt, sich Wissen zu Schwangerschaft, zur Begrenztheit des reproduktiven Alters und zu den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin anzueignen. Im politischen wie auch medialen Diskurs zur Familienplanung wird dabei gleichzeitig die Wahlfreiheit und Autonomie der Einzelnen betont.
Frau Fassbender verfolgt in ihrem Aufsatz den ninkatsu-Diskurs in der jüngeren demographischen Politik, der Sonderausgabe einer Frauenzeitschrift, einem Familienplanungs-Handbuch für junge Frauen und einer Fernsehdokumentation zur Alterung von Eizellen. Sie ermittelt hinter ninkatsu eine breite Akteurskonstellation, die über den Staat hinausgeht und die Reproduktionsmedizin und die Pharmaindustrie einbezieht. Sie zeigt auf, wie dem Diskurs ein Bild vom selbstverantwortlichen, sich selbst optimierenden Individuum zugrundeliegt. Und sie arbeitet den Gender-Konservatismus des Diskurses heraus, der sich allein auf potenzielle Mütter bezieht: Ihre Selbstverantwortung wird angesprochen. Sind ihre Unwissenheit und ihre Selbstbezogenheit einmal überwunden, werden Kinder, so der Grundtenor, zum selbstverständlichen Lebensziel. Väter hingegen spielen keine Rolle und hemmende soziale Faktoren wie etwa prekäre Beschäftigungs-, Wohn- oder Betreuungsbedingungen sind ausgeblendet.
Uns gefällt hierbei, wie Frau Fassbender auf der Grundlage japanischsprachiger Primär- und Sekundärquellen einen interessanten neuen gesellschaftlichen Trend nicht nur behauptet, sondern durch Statistiken über die Medienpräsenz von ninkatsu auch belegt. Die theoretische Einbettung ist gelungen, denn Frau Fassbender bindet ninkatsu passgenau an breitere sozialwissenschaftliche Debatten zur Biopolitik im Sinne Michel Foucaults und zum neoliberalen Verständnis des Individuums als unternehmerischem Subjekt an. Blinde Flecken und versteckte Partikularinteressen werden auf erhellende Weise offengelegt. Die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft wird ebenfalls reflektiert, wenn die interessegeleitete Nutzung wissenschaftlicher Umfragen und Ergebnissen durch die ninkatsu-Protagonisten zur Sprache kommt. Der Aufsatz vertritt einen dezidiert eigenen Standpunkt und ist nicht zuletzt auch sehr ansprechend geschrieben. Wie wir finden, hebt ihn die Kombination all dieser Vorzüge unter den vielen guten eingereichten Beiträgen noch einmal besonders heraus.
Daher haben wir uns für Frau Dr. Fassbenders Aufsatz entschieden und gratulieren ihr herzlich zum VSJF-Preis!
Jury
Prof. Dr. Moritz Bälz (Universität Frankfurt/M.)
Prof. Dr. Christoph Brumann (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle)
Dr. Alexandra Sakaki (Stiftung Politik und Wissenschaft, Berlin)