Jahrestagung 2006

Social Science Matters

Bericht der Jahrestagung in Hamburg, 10.-12. November

Welche Bedeutung haben die Sozialwissenschaften für Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft in Japan heute? Diese Frage stand im Mittelpunkt der von Wolfram Manzenreiter (Universität Wien) und Iris Wieczorek (GIGA Institut für Asien-Studien) organisierten 19. Jahrestagung, die vom 10. bis zum 12. November in Hamburg stattfand. 14 ReferentInnen aus Deutschland, England, Frankreich, Japan und Österreich untersuchten ausgewählte Teilaspekte des japanischen Wissenschaftssystems und trugen zur Klärung von folgenden Leitfragen bei: Wie wird Exzellenz in den Sozialwissenschaften definiert? Wie werden wissenschaftliche Qualitätsstandards etabliert, eingeklagt und überwacht? Welche Rolle spielen internationale Wissensnetzwerke und transnationale Standards (z.B. Social Science Citation Index, Peer Review, Centers of Excellence)? Welche Interessengruppen innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft nehmen Einfluss auf die Forschungsförderung? In welchem Verhältnis stehen Wissenschaft und Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, Wissenschaft und Medien zueinander?

Rund 120 Personen aus dem In- und Ausland nahmen an der von der Japan Foundation und der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderten Konferenz teil. Als lokaler Kooperationspartner fungierte die Handelskammer Hamburg, die der Tagung sowie assoziierten Veranstaltungen ihre bestens ausgestatteten Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. Die Stadt Hamburg lud die KonferenzteilnehmerInnen zu einem Senatsempfang, bei dem sie Wissenschafts- und Forschungssenator Jörg Dräger und der japanische Generalkonsul Ishihara Tadakatsu begrüßten; mit einem reichhaltigen Buffet und Gesprächen im feierlichen Ambiente des Hamburger Rathauses wurde der Abend abgerundet.

Im Vorfeld der Tagung fand in der Handelskammer Hamburg ein von Iris Wieczorek initiiertes Dialogforum zwischen Wissenschaft und Wirtschaft statt. Life Sciences und Nanotechnologie bildeten die Schwerpunktthemen der Paneldiskussion mit deutschen und japanischen Vertretern aus der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Praxis. Die geladenen Paneldiskutanten tauschten sich in der von der JDZB-Geschäftsführerin Friederike Bosse moderierten Veranstaltung zu Fragen des Technologietransfers und gegenseitiger Erwartungen aus. Ein detailliertes Programm befindet sich im Archiv auf der Homepage der VSJF.

Den Auftakt der Haupttagung bildeten Grußworte der Partnerinstitutionen, vertreten durch die Geschäftsführerin der Handelskammer Hamburg, Corinna Nienstedt, und dem VSJF-Vorsitzenden Klaus Vollmer sowie der KonferenzorganisatorInnen. Wolfram Manzenreiter und Iris Wieczorek skizzierten in einem einleitenden Statement den Hintergrund, vor dem sie die ReferentInnen aufgefordert hatten, zu den spezifischen Konstruktionsbedingungen sozialwissenschaftlichen Wissens in Japan Stellung zu nehmen. Dass es ihnen nicht (nur) um wissenschaftstheoretische Reflexionen ging, unterstrichen sie exemplarisch mit dem zunehmenden Legitimationsdruck, der auch in Japan auf den Sozialwissenschaften lastet, seitdem fachinterne Ausdifferenzierung, politischer Konzeptionswandel sowie die Internationalisierung der Bildung und der Arbeitsmärkte die Anbieter- und Nachfragerstrukturen für die Sozialwissenschaften nachhaltig verändert haben.

Als Keynote Speaker war Roger Goodman vom Orient-Institut der Universität Oxford gewonnen worden. In seinem Vortrag zu “The ‘Big Bang’ in Japanese higher education and its effects on teaching, research and administration“ zeichnete er ein dramatisches Bild für die Überlebenschancen zahlreicher kleiner Privatuniversitäten, die am stärksten von den Herausforderungen des demografischen Wandels und der zunehmenden Bedeutung von Marktimperativen betroffen sind. Goodman zufolge werden diese Effekte zu einer Form der Marktbereinigung führen, die sich langfristig positiv auf Auswahlkriterien, Bewerbungsverfahren, Qualität der Studierenden, Formen des Unterrichtens und weitere Institutionen der japanischen Bildungsgesellschaft auswirken werden. Danach folgten insgesamt sechs thematische Sektionen an den drei Konferenztagen.

In der ersten Sektion Defining the Agenda: Social Sciences Research Fields wurde mit Beiträgen zu Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Politologie und Cultural Studies das Terrain für einige der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen aufbereitet. Sepp Linhart (Universität Wien) stellte seinem Vortrag “People, problems, perspectives: the development of sociology in postwar Japan“, die Frage voran, ob diese das Schicksal der Soziologien in den USA und Europa teilen würde, die viel von ihrem einstigen Glanz verloren hätten. Seine Analyse von „Personen, Problemen und Perspektiven“ zeichnete die Entwicklung der Soziologie als anti-kolonialistische Selbstbehauptung und ausgebliebene Feminisierung der Disziplin nach. Trotz des auffallenden Fehlens herausragender SoziologInnen als Figuren des öffentlichen Interesses profitierte die japanische Soziologie im Gegensatz zur Disziplin im Westen von dem „Ende der Geschichte“, da sie der Zusammenbruch des Sozialismus nicht in eine Sinnkrise und Orientierungslosigkeit stieß, sondern stärkere Kohäsion hervorgebracht hat. In den Wirtschafts- und Politikwissenschaften, deren Entwicklungen Werner Pascha (Universität Duisburg-Essen) und Katô Tetsurô (Hitotsubashi Universität, Tôkyô) kommentierten, hatten solche exogene Faktoren ebenfalls wegweisende Wirkung: allerdings war der Niedergang der marxistischen Wirtschaftsforschung zu gleichen Teilen von institutionellen Bedingungen in Japan und den Parallelentwicklungen in der internationalen Disziplin bestimmt gewesen. Laut Pascha trug die internationale Anbindung der Wirtschaftswissenschaften sehr viel stärker zur Transformation des Feldes bei, allerdings mit unterschiedlichen Auswirkungen bei den diversen Akteuren und Institutionen. Dank der Dominanz modellierender Wissenschaftstraditionen haben Japans ÖkonomInnen eher Anerkennung in abstrakter als in angewandter Ökonomie erhalten; allerdings wurden Vertreter der letzten Richtung in der jüngeren Vergangenheit stärker in die politische Arbeit japanischer Kabinette eingebunden. Für die Politikwissenschaften stellte Katô fest, dass der Positivismus amerikanischer Prägung als Sieger aus dem Wettstreit mit marxistischen und postmodernen Theoriesystemen hervorgegangen ist. Die ideologischen und methodologischen Konsequenzen dieser disziplinären Verschiebung verknüpfte Katô mit einer Kritik an den betriebswirtschaftlichen Parametern hinter der Reform der japanischen Universitätslandschaft und der steigenden Bedeutung des Internets in der akademischen Arbeit. Im letzten Vortrag der ersten Sektion berichtete Fabian Schäfer (Universität Leipzig) über die Rezeption der Cultural Studies in Japan, die sich seit den 1990er Jahren disziplinen- und fakultätenübergreifend etablierten. Das transdisziplinäre Projekt führte nicht allein zu einer kritischen Neubetrachtung gewohnter Konzepte wie nationale Identität, Rasse, Gender und Ethnizität. Vor allem junge Forscher nutzen Cultural Studies zudem auch als Ausgangspunkt zur Kritik an konservativen Strömungen in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft und beteiligten sich im Rahmen der „Reartikulation“ der karucharu stadiizu auch an grundlegenden Debatten zur westlichen Form des Denkens.

Die zweite Sektion stand unter der Überschrift Academic Markets and Networks in Japan and Beyond. Der Frage, wie und inwieweit Netzwerke in den Sozialwissenschaften (insbesondere in den Politikwissenschaften) einen Einfluss auf die außenpolitischen Beziehungen zwischen den USA und Japan haben, ging Verena Blechinger-Talcott (Freie Universität Berlin) nach. Zur Beantwortung analysierte sie die Ziele, Grundsätze und Umfang der bekanntesten akademischen Austauschprogramme in den Sozialwissenschaften und zog die Karrierepfade von TeilnehmerInnen dieser Programme nach. Sie zeigte, dass derartige Austauschprogramme einen formierenden Einfluss auf die Perzeption der Eliten beider Länder haben und damit auch in den außenpolitischen Diskurs der Allianzpartner einwirken. Arnaud Nanta (L’École Des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris) setzte sich in seinem Beitrag zu “Networks, schools and topics of Japanese postwar anthropology“ mit den Umständen auseinander, in denen der Homogenitätsmythos des japanischen Volkes zum hegemonialen Diskurselement der japanischen Anthropologie nach 1945 werden konnte. Nanta führt den Paradigmenwechsel auf die Neuordnung der akademischen Welt nach dem Zusammenbruch des Kolonialreichs zurück, in der VertreterInnen der Einzigartigkeitshypothese Schlüsselstellen in der japanischen Anthropologie für sich usurpieren und damit die Diskursentwicklung kontrollieren konnten.

In Sektion 3 Social Sciences in (best) Practice stellte Bruce White (Doshisha Universität, Kyôto) in seinem Vortrag “Social science at work: ethnographic notes from a sociology department“ vorläufige Ergebnisse verschiedener Tiefeninterviews und teilnehmender Beobachtungen vor, die er an einer bekannten japanischen Privatuniversität durchgeführt hatte. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung stand die Frage, welche Ideen, Einstellungen und Zukunftsvisionen ProfessorInnen im gegenwärtigen Japan zur Netzwerkbildung motivieren. Dabei kamen sowohl persönliche Wünsche und Ziele als auch gesellschaftliche Ansprüche wie z.B. politische Partizipation der Befragten zur Sprache: sozialistische Vorstellungen darüber, wie die Welt sein sollte; ein pessimistisches Zukunftsbild über eine Welt, in der soziologisches Wissen kaum eine Rolle spielt; und die Vorstellung, dass die Definition der japanischen Kultur selbst einer Rekonstruktion bedarf. In seinem Vortrag “System, anti-system, and beyond: (social) scientists and politics in Japan“ stellte Robert Triendl (Translational Research, Inc., Wien und Tôkyô) dar, welch vielfältigen Verbindungen im Bereich der Organisation und Kultur zwischen der Wissenschaft und der Politik bestehen. Er argumentierte, dass die Interaktion zwischen Wissenschaft und Politik in ihrer gesamten empirischen Vielfalt eine hervorragende Basis darstellt, um die Entstehung einer Zivilgesellschaft in Japan historisch zu verankern. In Japan können die Sozialwissenschaften nur indirekt Einfluss auf die Politik nehmen und werden häufig erst nach langer Zeit sichtbar. Triendl zeigte jedoch, dass in den letzten zehn Jahren auch in Japan die Querverbindungen zwischen der Verwaltung und der akademischen (sozialwissenschaftlichen) Welt zugenommen haben.

Die vierte Sektion beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen Sozialwissenschaften und öffentlichem Wissen (public knowledge). Beiden Referenten ging es nicht nur um die Aufschlüsselung von Prozessen des Wissenstransfers von der Forschung in die Gesellschaft hinein, sondern auch um deren Implikationen für die Wirklichkeitsschaffung und Wirklichkeitswahrnehmung. Robert Horres (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) ging der Rolle der Politikwissenschaften im bioethischen Diskurs in Japan nach und musste feststellen, dass die Forschung bestenfalls als defizitär zu qualifizieren ist. Gerade weil biotechnologische Entwicklungen Theorien und fundamentale Prinzipien der Demokratie zu erschüttern drohen, wären die Politikwissenschaften gefragt, sich zur Schaffung eines nationalen oder internationalen Konsenses an einer Diskussion zu beteiligen, die derzeit maßgeblich von Medizinern, Juristen und Philosophen geführt wird. Im zweiten Beitrag erklärte David Chiavacci (Freie Universität Berlin), warum sich in Japan das Bild der egalitären Mittelstandsgesellschaft trotz gegenteiliger Erkenntnisse der Sozialforschung verbreiten konnte. Die Konstruktion der Modelle gesellschaftlicher Wirklichkeit wird wahrscheinlich weniger von den Sozialwissenschaften als vom öffentlichen Diskurs und den lebensweltlichen Bedingungen geprägt. Daher ist die in den letzten Jahren deutlich zu vernehmende Wiederkehr des Klassenbegriffs im japanischen Gesellschaftsbild auch eher auf die Diskrepanz zwischen subjektiven Erwartungen und dem Gesellschaftsmodell als auf empirisch messbare Veränderungen zurückzuführen.

Das Thema Pursuing Excellence behandelten drei Vorträge in der fünften Sektion. Nagano Hiroshi (JST, Tôkyô) betrachtete in seinem Vortrag “Centers of excellence and definitions of good science in Japan“ insbesondere, welche Bedeutung Centers of Excellence (COE) im Bereich der Naturwissenschaften haben. Ein Erfolgsmodell für COEs stellt das RIKEN dar, aus dem viele von Japans höchst angesehenen NaturwissenschaftlerInnen stammen. Die zur Förderung wissenschaftlicher Exzellenz ins Leben gerufenen Zentren haben aber eher negative Auswirkungen in den Sozialwissenschaften, sagte Okunishi Takashi (Universität Kobe) in seinem Vortrag, weil die COEs undifferenziert den Arbeitsprozessen der Naturwissenschaften nachmodelliert wurden. So haben die Wirtschaftswissenschaften ihre ursprüngliche Zielvorstellung, nämlich die Wirtschaft zu steuern oder zu managen, weitgehend aus den Augen verloren, als sie sich mehr für das Publizieren in angesehenen (amerikanischen) Fachzeitschriften zu interessieren begannen. Als Konsequenz stehen nun gesamtgesellschaftliche Interessen an Wissenschaft und Forschung den individuellen Interessen der Forscher entgegen. Die Fokussierung auf Projektarbeit stellt eine Benachteiligung von Themen dar, die individuell entwickelt worden sind und bietet dem wissenschaftlichen Nachwuchs nicht mehr als temporäre Beschäftigungsverhältnisse. Gleichzeitig konstatiert Okunishi einen eklatanten Mangel an Kompetenzen in Wissenschaftsmanagement und multidimensionalen Evaluationsverfahren.

Der letzte Beitrag von Yonezawa Akiyoshi (NIAD-UE, Tôkyô) zu Qualitätsbewertung und Sozialwissenschaften an japanischen Universitäten schloss den Kreis der Vorträge der Veranstaltung. Wie Goodman in der Keynote bezog sich Yonezawa auf die Universitätsreformen von 2004, die erstmals externe, unabhängige Evaluation von Forschung und Lehre als Voraussetzung für die Akkreditierungsverfahren von Hochschulen einführten. Auch Yonezawa betonte die Hoffnung auf positiven Wandel, der durch das COE-Programm und Good Practice-Initiativen für den Unterricht ausgelöst werden könne; größere Transparenz, Reflexion über institutionelle Ziele, studentenzentrierte Unterrichtsformen in der Ausbildung sowie eine Systematisierung der Forschungsaktivitäten. Angesichts unbefriedigender Messinstrumente, unterentwickelter Bewertungskataloge und der lauernden Gefahr, die Strukturreform den Marktkräften zu überlassen, sind die Sozialwissenschaften sehr stark gefragt, mit ihrer Expertise so bald wie möglich proaktiv in den Reformprozess der Bildungslandschaft einzugreifen.

Den Abschluss der Tagung bildete eine Paneldiscussion. Die Leitfrage lautete Do Social Sciences Really Matter?, sie wurde ergänzt durch die Fragen „für wen, wann und unter welchen Bedingungen“? Dadurch wurde ein Rekurs auf die Themen der Haupttagung – Forschungsqualität, Relevanz(en), Bedingungen der Wissensproduktion – unternommen. Moderiert wurde die Paneldiscussion von Christian Kirchner (Humboldt Universität, Berlin); im Panel saßen Vertreter von Förderinstitutionen, Forschungseinrichtungen und der Forschungspolitik: Harald Conrad (DIJ Tôkyô und Friedrich-Ebert-Stiftung), Jörn Dosch (Universität Leeds), Heinrich Kreft (Planungsstab der Parlamentarischen Gruppe CDU/CSU), Hiromi Sato (Japan Foundation) und Katô Tetsurô (Hitotsubashi Universität). Die fünf Panelisten gaben jeweils in fünfminütigen Statements ihre Einschätzung zur Signifikanz der Sozialwissenschaften ab und skizzierten ihre Erwartungen an die weiteren Akteursgruppen. In einer zweiten Runde wurden Querbezüge zu den Ergebnissen der Vorträge hergestellt und anschließend die Diskussion für das Plenum geöffnet.

In ihrem Schlusswort versprachen die Organisatoren, die mit der Tagung initiierte Netzwerkbildung in der internationalen sozialwissenschaftlichen Japanforschung disziplinen- und länderübergreifend auch weiterhin zu verfolgen und sich um die Publikation der exzellenten Beiträge in einem renommierten Forum zu kümmern. Bislang stehen die meisten Präsentationen auf der Homepage der VSJF zum Download bereit; die Organisatoren konnten eine führende Zeitschrift im Diskursfeld zur Zusammenarbeit für eine thematische Schwerpunktnummer gewinnen und stehen in Verhandlungen mit einem internationalen Publisher für einen Sammelband.

Wolfram Manzenreiter (Universität Wien) und Iris Wieczorek (GIGA Institut für Asien-Studien)