Jahrestagung 2008
Demographic Change in Japan and the EU – Comparative Perspectives
Die Tagung wurde organisiert von Annette Schad-Seifert und Shingo Shimada (beide Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) organisiert. Sie fand vom 28.11.2008 bis 30.11.2008 im Mutterhaus-Tagungshotel in Kaiserswerth/Düsseldorf statt und wurde unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den Freunden und Förderern der Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf, der Poensgen-Stiftung und der Wirtschaftsförderung der Stadt Düsseldorf.
Insgesamt stellten 13 Referenten aus Deutschland, England, Japan und den Niederladen ihre Beiträge in vier Sessions zu den Themen demographische Trends und Sozialanalyse, familiärer Wandel und Wohlfahrtspolitik, alternde Gesellschaften und Haushaltsorganisation sowie demographischer Wandel und Wirtschaft vor. Mehr als 120 Personen aus dem In- und Ausland nahmen an der Konferenz teil. Wie zu den vorangegangenen Tagungen auch, fand im Vorfeld der Tagung ein Gender-Workshop zum Thema „Geschlechterverhältnis und demographischer Wandel in Japan“ statt.
Auf der Tagung ging es neben der vergleichenden Perspektive, die sich vor allem mit unterschiedlichen Systemen der Wohlfahrt, der sozialen Sicherung und betrieblicher Organisation unter veränderter demographischer Zusammensetzung der Gesellschaften beschäftigt, um die zukunftsweisende Auseinandersetzung mit der Frage nach einer neuen Gerechtigkeit. Dazu gehörten Fragen nach sozialer Alimentierung von Bedürftigen, der kreativen Nutzung der Wirtschaftskraft älterer und alter Menschen sowie der kulturell unterschiedliche Wahrnehmung von Familie, Alter und Generationenverhältnis in Japan und Europa als möglicher Wegweiser für neue gesellschaftliche Chancen im Umgang mit dem demographischen Wandel.
Eröffnet wurde die Tagung durch die Grußworte des Präsidenten der VSJF, Wolfgang Manzenreiter, des Konsuls des japanischen Generalkonsulates Düsseldorf, Ken’ichirō Tanaka, des Dekans der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine Universität, Ulrich von Alemann, sowie durch Uwe Kerkmann vom Wirtschaftsbüro der Stadt Düsseldorf. Im Anschluss daran führte Annette Schad-Seifert im Namen der Organisatoren in das Thema der Konferenz ein.
Die erste Session zum Thema „Demographic Trends and Social Analysis – Observations from Japan and the EU“ wurde von Uta Meier-Gräwe (Universität Giessen) aus deutscher Perspektive eingeleitet. Ihr Vortrag mit dem Titel “Why do we Need a Paradigm Change in Family Policy?” beschäftigte sich mit der Frage nach familienpolitischen Lösungsstrategien für die niedrige Geburtenrate in Deutschland. Viele junge Familien blieben kinderlos und nur eine geringe Anzahl an Familien habe mehrere Kinder, obwohl der Wert von Familie und Kindern auch unter jungen Paaren sehr hoch sei. Uta Meier-Gräwe schlussfolgert daraus, dass Beruf und Familie noch immer sehr schlecht vereinbar sei und dass Vorstellungen zu Familie und Beruf unter jungen Paaren stark divergierten. Während junge Frauen ein Modell anstreben, bei dem die Aufgaben in Familie, Haushalt und Arbeit zwischen den Geschlechtern gleich verteilt sind, sehen sich junge Männer immer noch eher als Ernährer der Familie. Infolge dieser Divergenzen bleiben viele Paare kinderlos. In Anlehnung an den Familienbericht der Bundesrepublik versuchte Meier-Gräwe die Frage zu beantworten, welche familienpolitischen Maßnahmen ergriffen werden müssten, um Paaren die Entscheidung für Kinder zu erleichtern. Zentrale Faktoren seien dabei vor allem Zeit, aber auch Infrastruktur und finanzielle Unterstützung. Sie betonte, dass familiäre Verantwortung nur dann übernommen werde, wenn für beide Geschlechter trotz Unterbrechungen zugunsten von Familie Kontinuität in der beruflichen Karriere gewährleistet werde. Ferner sei es zur Steigerung der Geburtenrate unumgänglich, die Schlüsselphase für die berufliche Laufbahn auszudehnen. Nur so könne die „Rush Hour of Life“, in der wesentliche Lebensaufgaben und Verantwortungen wie Aus- und Weiterbildung, Familiengründung, berufliche Karriere und Pflege von Familienangehörigen dicht gedrängt sind, aufgelockert und mehr Zeit für Kinder und Familienplanung eingeräumt werden. Insgesamt forderte Meier-Gräwe in ihrem Vortrag, dass sich die Familienpolitik auf die Reorganisation von Familie und Arbeitswelt im Sinne der Geschlechtergleichstellung konzentrieren solle, indem sie Pausen, Unterbrechungen und Wechsel im Arbeitsleben beider Geschlechter fördert und fordert.
Im Anschluss daran hielt Sawako Shirahase (Universität Tokio) einen Vortrag über sozioökonomische Ungleichheit vor dem Hintergrund des demographischen Wandels. Sie konzentrierte sich dabei auf Alterung und Einkommensungleichheit in verschiedenen Ländern. Ihrer Untersuchung zufolge hängt die wirtschaftliche Situation von Menschen über 65 Jahren eng mit der Haushaltsstruktur zusammen, in der sie leben. Im Zuge des demographischen Wandels habe sich nicht nur die Bevölkerungsstruktur verändert, sondern auch die Formen des Zusammenlebens. Haushaltsformen seien pluralistischer geworden. Gesellschaften, in denen ältere und alte Menschen in verschiedenen Formen zusammen leben, wiesen einen höheren Grad an wirtschaftlicher Ungleichheit auf. Dementsprechend unterscheide sich die wirtschaftliche Situation von älteren Menschen je nach Haushaltsform. Am schlimmsten von Armut betroffen seien Ein-Personen-Haushalte von älteren und alten Frauen. Shirahase wies abschließend darauf hin, dass Japan keine Gesellschaft mehr sei, in der ein hohes Maß an Gleichheit herrscht, sondern vielmehr mit vielfältigen sozialen Problemen wie Altersarmut konfrontiert sei.
Abgeschlossen wurde die erste Session durch die Keynote Speach von Florian Coulmas, dem Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio. Coulmas verband seinen Vortrag über gesellschaftliche Alterung und Familienwandel in Japan mit der Frage nach dem Glück und den Möglichkeiten der Verwirklichung eines glücklichen Lebens. Die auffällige Suche nach Glück im öffentlichen Diskurs Japans ist für Coulmas Ausdruck eines nachhaltigen gesellschaftlichen Umbruchs, der seine Folgen auch im demographischen Wandel hat. Der Anstieg des Anteils der Alten an der Bevölkerung und die durch Beschäftigungswandel geringer werdenden Möglichkeiten für junge Menschen eine Familie zu gründen hätten unmittelbare Auswirkungen auf individuelle Sinneinstellungen und Wohlstandserwartungen der Bevölkerung. Das bislang in Japan eher konsumvermittelte Streben nach Glück könne in Zeiten der wirtschaftlichen Krise Defizite nur noch unzulänglich ausgleichen. Die zukünftige Forschung des DIJ wird sich mit den wandelnden Einstellungen einer alternden Gesellschaft in ihrem Glückstreben und medialen Glückverheißungen befassen.
Die zweite Session zum Thema „Family and Welfare Policies in Japan and the EU“ wurde durch den Vortrag von Christian Tagsold (Universität Düsseldorf) eingeleitet. In seinen Ausführungen beschäftigte er sich mit der Langzeit-Pflegeversicherung im Vergleich Japan-Deutschland. Die Einführung dieser Versicherung in Japan führte zu heftigen und kontroversen Diskussionen in ländlichen Gebieten. Einerseits wurde sie begrüßt, da sie als Schritt in die Unabhängigkeit der Regionalpolitik verstanden wurde, andererseits wurden einige der Neuerungen abgelehnt. Um die Kontroverse zu beenden und das neue System besser zu verstehen, orientierten sich japanische Politiker an Deutschland, da das deutsche Pflegeversicherungssystem dem japanischen System Modell gestanden hatte. Tagsold zeigte in seinem Vortrag am Beispiel der Stadt Fukuoka, wie das deutsche Versicherungssystem durch Bürokraten und Spezialisten diskutiert wurde und wie kontextgebundene Übersetzungsprozesse zur Lösung von Problemen beitrugen.
Im anschließenden Vortrag von Axel Klein (DIJ Tokio) stand die Frage nach politischen Antworten auf die niedrige Geburtenrate im Mittelpunkt. Die sinkende Geburtenrate steht seit einigen Jahren auf der politischen Agenda und viele Maßnahmen wurden eingeleitet, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Dennoch konnte keine Verbesserung erzielt werden, vielmehr sinkt die Geburtenrate weiterhin kontinuierlich. Klein ist deshalb in seinem Vortrag der Frage nachgegangen, weshalb politische Entscheidungsträger keine effektiveren Maßnahmen veranlassten. Herkömmliche Vermutungen, wie etwa, dass finanzielle Mittel fehlten oder Politiker zu konservativ eingestellt seien, sieht er nicht als Faktoren, sondern kommt in seiner Untersuchung zur neuen Erkenntnis, dass der Marktwert von Fertilitätspolitik zu niedrig sei, der Handlungsdruck auf politische Entscheidungsträger damit gering ausfalle und die Fertilitätspolitik zu oft von anderen politischen Themen überstimmt würde. Außerdem hindere die kontinuierliche Orientierung am Ausland die Politik, effektive Strategien zur Bekämpfung der sinkenden Geburtenrate zu entwickeln.
Aya Ezawa (Universität Leiden) beendete die zweite Session mit einem Vortrag zu staatlichen Sozialleistungen und allein erziehenden Müttern. Steigende Zahlen sozialhilfebedürftiger Haushalte führten zu umfassenden Reformen des Sozialhilfesystems im Sinne einer „welfare-to-work“ Politik. Beabsichtigt ist dabei, die Abhängigkeit von staatlicher Hilfe durch gezielte Förderung der Schaffung und Vermittlung von Arbeitsplätzen zu reduzieren. Zentrale Zielgruppe sind vor allem alleinerziehende Frauen. Aya Ezawa zeigte in ihrem Vortrag jedoch, dass das Arbeitssuchen und Arbeitfinden nicht allein von Willen und Mühe des Arbeitssuchenden sowie vom Arbeitsangebot abhängt. Alleinerziehende Mütter sehen sich durch schlechte Qualifikationen und geringe informelle bzw. formelle Ressourcen bei der Arbeitssuche Schwierigkeiten ausgesetzt, die ihnen den Weg in die Unabhängigkeit vom Staat erschweren. Ezawa betonte zudem, dass soziale Herkunft und Alltagsbewältigung die Chancen auf finanzielle Unabhängigkeit mindern.
Die dritte Session beschäftigt sich mit der alternden Gesellschaft und der Organisation von Haushalten. Maren Godzik (DIJ Tokio) leitete das Thema mit einem Vortrag zu alternativen Wohnformen ein. Im Zuge der Pluralisierung von Lebens- und Familienformen kam es in Japan zu einem Zerfall des Drei-Generationen-Haushalts zugunsten der Kernfamilie. Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels sieht sich die japanische Gesellschaft zunehmend der Frage nach der Pflege und Betreuung der älteren Generationen ausgesetzt. In den letzten Jahren entstanden meist aus privaten Initiativen verschiedene Formen des betreuten Wohnens für alte Menschen, die darauf ausgelegt sind, die fehlende Betreuung durch Familienangehörige über die Gewährleistung von Pflege, medizinischer Versorgung und täglichem Bedarf zu kompensieren. Maren Godzik untersuchte in ihrer Studie verschiedene Wohnkonzepte und versuchte die Frage zu klären, ob diese Modelle eine Lösung für die Pflegeproblematik der Zukunft sein könnten.
Der zweite Vortrag in dieser Session von Richard Ronald (Delft University of Technology) diskutierte die Frage, welche Rolle das Wohnsystem in Japan für das zunehmende Auseinanderdriften der Generationen spielt. Obwohl der Wohnungsmarkt einen entscheidenden Einfluss auf Lebensbiographien habe, sei er bisher kaum in diesem Zusammenhang untersucht worden. Ronalds Untersuchungen zeigten jedoch, dass das Wohnsystem in Japan die demographische Entwicklung beeinflusst und als eine wesentliche Ursache für sinkende Geburtenzahlen und Familiengründungen angesehen werden kann.
Abschließend sprach Akiko Oda (Universität Surrey) zum Thema Pflege in Haushalten alter Menschen. Durch den Wandel der Haushalts- und Familienformen seien ältere Paare zunehmend auf sich selbst gestellt und für die Betreuung des pflegebedürftigen Partners verantwortlich. Dies strapaziere laut Oda vor allem ältere Ehefrauen, da sie häufig die Pflege für ihre Ehemänner übernehmen müssten und zudem unter traditionell patriarchalischen Machtstrukturen zu leiden hätten. Um die Frauen zu entlasten, führte die japanische Regierung im Jahr 2000 die Langzeit-Pflegeversicherung ein. Es mangele jedoch nach wie vor an Bereitschaft, außerfamiliäre Unterstützung anzunehmen. Insbesondere Männer bevorzugten es, von der eigenen Frau gepflegt zu werden. Oda fand zudem heraus, dass die Bereitschaft, externe Pflege anzunehmen, von weiteren Faktoren wie z.B. sozialer Schicht, Geschlecht, Pragmatismus, sozioökonomischer Situation sowie sozialer Stigmatisierung abhänge.
Die vierte Session „Demographic Change and the Economy“ hatte den wirtschaftlichen Aspekt des demographischen Wandels zum Thema. Als erster Referent der Session präsentierte Florian Kohlbacher (DIJ Tokyō) seine Untersuchung zur alternden erwerbstätigen Bevölkerung. Die japanische Gesellschaft sowie japanische Unternehmen sehen sich großen Herausforderungen gegenüber, da die Bevölkerung – und ihre Erwerbsbevölkerung – nicht nur altere, sondern auch schrumpfe. Seit 2007 gehen die ersten Jahrgänge der Baby-Boomer- Generation in Rente, wodurch es sowohl zu Arbeitskräftemangel, als auch zu Wissensverlust komme („2007 Problem“). In seinem Vortrag gab Kohlbacher einen Überblick über das „2007 Problem“ sowie die Herausforderungen und Auswirkungen, die das Altern der Erwerbsbevölkerung für die Wirtschaft haben wird.
Anschließend referierte Atsuhiro Yamada (Keio Universität) zur Effektivität Arbeitsplatz sichernder Maßnahmen für ältere Angestellte. Im Jahr 2006 wurde das “Law for the Stabilization of Employment of Older Persons (LSEOP)” eingeführt, das Unternehmen verpflichtete, eine der drei folgenden Maßnahmen zur Sicherung der Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer durchzusetzen: a) Anheben des aktuellen Rentenalters, b) Einführung eines Weiterbeschäftigungssystems, oder c) komplette Aufhebung des verbindlichen Rentensystems. Yamadas Forschungen ergaben, dass Maßnahme b) am häufigsten praktiziert wird, allerdings unter massiven Gehaltseinbußen für die Arbeitnehmer. LSEOP habe es versäumt, Einkommenssenkungen gesetzlich zu regulieren, so dass der Erfolg des Gesetzes begrenzt bleibe.
Cosima Wagner (Universität Frankfurt) diskutierte in ihrer Präsentation die Frage, ob und wie die Schwierigkeiten der alternden Gesellschaft, wie etwa insbesondere der Arbeitskräftemangel, durch den Einsatz von Robotern kompensiert werden könne. Von besonderem Interesse sei hierbei der Pflegesektor, denn der Mangel an Pflegekräften für die wachsende alte Bevölkerung werde in Zukunft ein massives Problem darstellen. Um dies auszugleichen, werde der Einsatz der „robotic nurse“ diskutiert. Wagner gab in ihrem Vortrag einen Überblick über Erwartungen und Maßnahmen bezüglich des Einsatzes von Robotern im Pflegesektor und versuchte insbesondere die Fragen nach Effektivität von und Heilungsmöglichkeiten durch „robotic nurses“ zu beantworten.
Der letzte Vortrag der Tagung wurde von Cornelia Storz (Universität Frankfurt) gehalten und war in Zusammenarbeit mit Werner Pascha (Universität Duisburg-Essen) erstellt worden. Thema war die Entwicklung von Märkten am Beispiel des japanischen silver markets. Pascha und Storz fokussierten die Bedingungen, unter denen sich Märkte entwickeln. Entgegen der gängigen Annahme, dass Märkte plötzlich „auftauchen“, vertreten Pascha und Storz die Ansicht, dass Märkte gezielt konstruiert seien. Dies sei jedoch ein kaum erforschtes Feld. Nach einer theoretischen Einführung in die Thematik wurde diese These anhand des japanischen silver markets erläutert.
In der abschließenden Diskussion wurde deutlich, dass der demographische Wandel der Gesellschaften weniger ein Problem im Sinne der wachsenden Last durch Alte und schwindenden Zahl der Jungen darstellt, sondern vielmehr die Gesellschaften im Hinblick auf eine wachsende Diversifizierung und Differenzierung der Haushalte, Lebensformen und Beschäftigungsmöglichkeiten verändert. Die Gesellschaften unterlaufen eine Polarisierung, die nicht nur ökonomisch spaltet. Der Politikwissenschaftler Leonard Schoppa hat in seinem Buch ‚Race for the Exits’ die beiden Optionen „voice“ und „exit“ unterschieden, nach der Individuen, die unzufrieden mit ihrer Lebenssituation sind, sich entweder dazu entscheiden, ihre „Stimme“ zu erheben oder aus dem gesellschaftlichen Zusammenhalt auszutreten (exit). Besorgniserregend sei eine gesellschaftliche Entwicklung, infolge der Individuen in großer Zahl für die Option „Austritt“ votieren, entweder durch Verlassen des Landes oder Verzicht auf Familie, Beschäftigung und Wohlstand. Letztlich geht es bei allen Forschungsorientierungen um die Frage, wie die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft als solidarische Gemeinschaft möglich ist.
Annette Schad-Seifert
Stephanie Osawa