Jahrestagung 2009

Risk and East Asia

Die Tagung fand vom 20.11.2009 bis 22.11.2009 im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin (JDZB) statt. Organisiert wurde sie von Karen Shire (Universität Duisburg-Essen). Erstmals wurde die Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem National Center of Chinese Studies – White Rose East Asia Center ausgerichtet, so dass die Perspektive über Japan hinaus, auf China und Korea erweitert wurde. Unterstützt wurde die VSJF-Jahresversammlung 2009 vom Profilschwerpunkt „Wandel von Gegenwartsgesellschaften“ der soziologischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen, der DFG Research Training Group 1613 „Risk and East Asia“ des In-East der Universität Duisburg-Essen, dem JSPS Global Center of Excellence „Gender Equality and Multicultural Conviviality“ der University of Tokyo und Tohoku University, sowie dem JSPS Global Center of Excellence „Social Stratification and Inequality“ der Tohoku University.

Im Rahmen des Programmes stellten 14 Redner aus Japan, China, Korea, Deutschland, Dänemark und den USA in vier Sessions ihre Forschung zum Thema „Risk and East Asia“ vor. Mehr als 120 Personen formten die internationale Zuhörerschaft. Im Vorfeld der Tagung wurde zum wiederholten Mal der Gender-Workshop und zum ersten Mal ein Workshop zum Thema „Publish or Perish“ abgehalten.

Die Tagung wurde durch Grußworte der JDZB Generalsekretärin Frederike Bosse, des Präsidenten der VSJF Wolfgang Manzenreiter und des Direktors des National Center of Chinese Studies Flemming Christiansen eröffnet. Anschließend brachte Karen Shire als Organisatorin der Jahrestagung, dem Publikum das Programm der nächsten Tage näher.

In der ersten Session zum Thema „Reflexive Modernisation in East Asia“ legten vier Wissenschaftler aus Japan und Korea, die Rezeption von Ulrich Beck’s Arbeit im ostasiatischen Raum dar.

In dem Vortrag von Suzuki Munenori (Hosei University) und Ito Midori (Otsuma Women’s University) zum Thema der „Reception of Ulrich Beck’s Sociology in Japan: from Environmental Risk to Individualization“, wurde deutlich, welchen Weg die Wahrnehmung von Beck’s Arbeit in Japan genommen hat. Dabei galt lange Zeit der Fokus der environmental sociology, bevor seine Arbeit relativ spät auch in den Wahrnehmungsbereich der Sozialtheoretiker gelang. Die Grundlage für diese Entwicklung sehen Suzuki und Ito vor allen Dingen im Zuwachs gesellschaftlichen Unsicherheitsempfindens. Da auf Nachfrage aus dem Publikum erläutert wurde, dass es kaum vergleichbare Alternativtheorien gibt, wurde die Stellung von Ulrich Beck’s Theorie als eine „Big Theory in Times of no Big Theories“ betont.

Der zweite Vortrag der Session wurde von Han Sang-Jin (Seoul National University) gehalten und befasste sich mit der Legitimität des Begriffs der second modernity. Hierbei wurden von Han zahlreiche Bereiche und Fragen berührt, die im Zusammenhang mit dieser Theorie bisher noch nicht ausreichend beantwortet scheinen. Etwa die Abgrenzung von second modernity zu multiple modernities. Han betonte in seinem Vortrag die Bedeutung von Global Risks als Triebfeder der reflexiven Moderne, mahnte jedoch auch zu einer kritischen Betrachtung der Individualisierung als eben solche Triebfeder in Ostasien.

Ebenso wie Han unternahm Yui Kiyomitsu (Kobe University) in seinem Vortrag zu „Multiple Reflexive Modernities under Glocalization“ den Versuch, zwischen reflexiver Moderne in westlichen Gesellschaften und ostasiatischen Gesellschaften zu unterscheiden. Dabei konzentrierte er sich auf die Veränderungsprozesse auf individual, intermediate group und Staatsebene und griff ebenfalls die Frage nach second modernity und/oder multiple modernities auf, um zu dem Schluss zu kommen, dass sich im Westen, in Asien und den USA spezifische und unterschiedliche second modernities ausgeprägt haben. Es sollte also von multiple second modernities gesprochen werden.

Nach den drei Vorträgen zur Rezeption von Ulrich Beck’s Arbeit im ostasiatischen Raum, nutzte Ulrich Beck seine Key Note Speech zur „World Risk Society: The ‚Cosmopolitan Turn‘“ um seine eigene Wahrnehmung der internationalen Bedeutung seiner Risk Society zu erläutern. Er machte sich dabei im Rahmen seiner Ausführungen zum Cosmopolitan Turn für ein Überwinden des dominanten nationalen Fokus in der Wissenschaft stark. Der versuchte Schritt, von einer Gesellschaft zu der Gesellschaft, sei hierbei essentiell und leider noch nicht vollzogen. Um diesen adäquat zu vollziehen sei eine Betrachtung von „außen“ auf Gesellschaften unabdingbar. Im Zuge seiner Ausführungen zum methodischen Nationalismus, griff er ebenfalls den Gedankenstrang der unterschiedlichen second modernities auf. Das Timing der drei Triebfedern der second modernity sei hierbei in unterschiedlichen Gesellschaften verschieden und führe deshalb zu anderen Varianten der second modernity. Diesem Gedanken folgend, würden Staaten und Institutionen in unterschiedlichen Ländern verschiedene Formen der Individualisierung schaffen. Abschließend warf Beck noch den Gedanken einer imagined global risk community, als neuen und möglicherweise besseren Fokus bei der Analyse von globalen Risiken, in die Diskussion und stimulierte damit eine angeregte Debatte zu Möglichkeiten, Chancen und Risiken einer solchen Perspektive.

Diese Idee war dann auch einer von zahlreichen Gedankensträngen, der auf die Key Note Speech folgenden Podiumsdiskussion der Referenten der ersten Session. Die Diskussion wurde von Soziologin Anja Weiß (Universität Duisburg-Essen) geleitet und griff unter anderem das oftmals kritisch hinterfragten Verhältnis von Individualisierung und Konfuzianismus im ostasiatischen Raum auf. Die Podiumsdiskussion endete mit einem Ruf nach neuen Institutionen, die mit den radikalisierten Risiken heutiger Gesellschaften umgehen können.

Der zweite Tag der Jahrestagung begann mit der Session zum Thema „Social Risks and Inequalities – Livelihoods, Families and (Un)employment“, die von Anna Skarpelis (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung) moderiert wurde.

Den Beginn dieser Session machte Osawa Mari (University of Tokyo), die in ihrem Vortrag die Auswirkungen der Krise auf die Unterhaltssicherheit in Japan analysierte. Dabei unterschied sie drei Formen von Unterhaltssicherungssystemen. Das male breadwinner Modell, sowie ein work-life-balance orientiertes und eine marktorientiertes Modell. Der Einfluss der Sozial- und Steuerpolitik in Japan hat im Hinblick auf die Unterhaltssicherungssysteme ambivalente Auswirkungen. Osawa zeigte jedoch, dass insbesondere Kinder und Frauen unter den Mängeln der Politik in Krisenzeiten leiden. Im Rahmen des seniority based wage systems, komme es des Weiteren zu einer hohen Rate von working poor in Japan.

Als zweite Referentin befasste sich Liu Jieyu (Leeds University) mit dem Umgang von Arbeiterinnen in China mit dem Thema Arbeitslosigkeit. Als Datengrundlage diente ihr hierfür eine Fallstudie aus Nanjing, in der sie sich explizit mit den coping Strategien dieser Frauen befasste, die sich von den formellen Sicherungssystemen im Stich gelassen fühlten. Dem starken Gefühl der Überflüssigkeit und die unbefriedigenden Alternativen drängten dabei einen Großteil der Frauen in den informellen Beschäftigungssektor. Am Ende des Vortrages und der Studie stand dementsprechend eine „bumpy road to reemployment for female workers“.

In ihrem Vortrag zu „Blurred boundary families in postwar Japan“, nahm Jane Bachnik (Sophia University) Bezug auf eine 30 Jahre umfassende Fallstudie einer japanischen Familie. Dabei verdeutlichte sie äußerst anschaulich, die schwierige Gemengelage aus den ie Wurzeln der japanischen Familie und den Problematiken der modernen Kernfamilien, die eigentlich viel mehr sind, als abgeschottete Kernfamilien. Die Problemlage, der sich viele Familien in Japan (und nicht nur dort) gegenübersehen, geht dabei über bloßen demographischen Wandel hinaus und führt die Individuen in ganz alltägliche und umso dramatischere Entscheidungsdilemmata im Spannungsfeld aus Familie und Karriereplanung.

In allen drei Vorträgen der zweiten Session, wurde die Bedeutung zunehmender Radikalisierung und Privatisierung von Risiken auf der Individualebene deutlich. Damit schlug die Session eine Brücke zu den am Vorabend dargelegten theoretischen Grundgedanken zum Risikobegriff in Ostasien.

In der anschließenden, von Kawai Norifumi (Universität Duisburg-Essen) geleiteten, Podiumsdiskussion zum Thema „Regional Mechanisms in East Asia: A Meaningful Response to the Financial Crisis?“, wanderte der Fokus zu einer ökonomisch dominierten Betrachtung von Risiken. Hierzu befassten sich Werner Pascha (Universität Duisburg-Essen), Hanns Günther Hilpert (Stiftung Wissenschaft und Politik) und Frank Rövekamp (Fachhochschule Ludwigshafen) zunächst mit der Frage der Bedeutung der Finanzkrise für den ostasiatischen Raum und ostasiatische Märkte, um sich anschließend der Fragen nach der Umsetzbarkeit, den Risiken und den Chancen einer einheitlichen ostasiatischen Wirtschaftspolitik zu widmen. Nachdem Pascha einen detaillierten Vergleich der japanischen Krise mit der aktuellen Weltwirtschaftskrise anstellte, Kommentierte Hilpert die Maßnahmen des ostasiatischen Raumes im Hinblick auf die Krise sowie deren Einbeziehung in die G20. Rövekamp behandelte insbesondere die Auswirkungen der Krise auf die Handelsebene der ostasiatischen Nationen und wies dabei insbesondere auf die Probleme der kleinen und mittelständischen Unternehmen hin.

Die dritte Session, die von Imai Jun (Tohoku University) moderiert wurde, befasste sich mit der governance Ebene von Risiko. Der erste Redner, Christian Göbel (Lund University) untersuchte unterschiedliche governance Instrumente und Strategien in China und ihre Risiken und Chancen am Beispiel der Politik zur „Peasant burden“. Sein Analysefokus lag hierbei auf dem Zusammenspiel von Hierarchie und Wettbewerb sowie auf den beiden entscheidenden Akteurstypen der Pioniere und Widerständler. Er verdeutlichte in seinem Vortrag die Schwierigkeiten einer auf regionaler Ebene implementierten Politik, mit zahlreichen partizipierenden Akteuren.

Ogawa Akihiro (Universität Duisburg-Essen) schilderte am Beispiel der politischen Debatte zum Thema lebenslanges Lernen, welchen Weg die Diskussion genommen hat, sowie die unterschiedlichen Schritte der Implementierungsversuche von Maßnahmen zur Unterstützung lebenslangen Lernens in Japan. Während der Staat lebenslanges Lernen zunehmend unterstützt, werde es doch als Aufgabe für Individuen und Kommunen begriffen. Ogawa schilderte in seinem Vortrag die Schwierigkeiten, die bei Versuchen auftreten, dieses Ebenen zusammenzuführen.

Als letzte Rednerin der Session befasste sich Takeda Hiroko (Sheffield University) mit „The Gouverning of Family Risks in Contemporary Japan“. Sie führte dabei detailliert aus, welches Bild von Familie sich in den letzten 20-30 Jahren in der Debatte zur Familie in der japanischen Politik herauskristallisiert hat und welche Maßnahmen zur Implementierung dieses Familienbildes führen sollen. Die neoliberale Familie, die dem Staat als Ideal dient, stellt hierbei ein fast tragisch-komisches Leitbild dar, welches in seiner überhöhten Ausprägung an der Realität scheitern muss. Takeda analysierte zahlreiche Quellen und setzte diese in den Kontext realer Problematiken japanischer Familien, mit dem Ergebnis, einer enormen Diskrepanz zwischen der realen japanischen Familie und der Idealfamilie der politischen Debatte.

Die abschließende Session am Sonntagmorgen zum Thema „Rural Transformations in East Asia: Economic, Social and Political Risks“ wurde von Winfried Flüchter (Universität Duisburg-Essen) geleitet und beinhaltete die bereits zu Beginn der Jahrestagung genannten drei Ebenen, auf denen sich Risiken manifestieren – der individual, der intermediate group und der staatlichen Ebene.

Heather Xiaoquan Zhang untersuchte in ihrem Fallbeispiel eines Unternehmers in China, dessen Umgang mit Risiken und die Bedeutung von Information und Desinformation zum Thema Versicherungen und Sicherheitsmaßnahmen im Hinblick auf die individuelle Risikominderung. Ein Fazit ihres Vortrages war, dass Informationen (etwa über Versicherungen) zum einen essentiell für die Minderung individuellen Risikos sind und zum anderen in zahlreichen Fällen nur ungenügend vermittelt werden.

Cornelia Reiher (Universität Leipzig) befasste sich in ihrem Vortrag mit den Risiken, denen sich eine Region (Arita) und ihre traditionelle Keramik Industrie ausgesetzt sieht. Hierbei wurden die Revitalisierungsstrategien auf kommunaler Ebene geschildert. Die Versuche, die regionale Industrie durch Aktivitäten in den Bereichen Tourismus und Esskultur zu unterstützen, wirkten jedoch allesamt eher unbeholfen und wirkungslos im Hinblick auf die globalen Zusammenhänge der Krisensituation. In dem von Cornelia Reiher dargestellten Fallbeispiel, der Keramik Industrie in Arita, wurde das Spannungsfeld aus der Eröffnung neuer Märkte und Strategien und dem Beibehalt traditioneller Techniken und Strukturen deutlich, das sich so oder ähnlich in vielen Regionen in Ost und West wiederfindet.

Als letzter Redner der vierten Session schilderte Flemming Christiansen (University of Leeds), das Dilemma der Nahrungsversorgung in China, welches als eines der kommenden Hauptprobleme Chinas gilt. Hierbei stellte Flemming Christiansen eine Differenzierung nach unterschiedlichen Problemlagen an. Zum einen stellte er die sichere Nahrungsversorgung dem ökonomischen Wachstum gegenüber, zum anderen die Produktivität dem Risiko. Der Diskurs zur sicheren Nahrungsversorgung ist demzufolge eine Risikodebatte auf unterschiedlichen Ebenen und trifft auch auf unterschiedlichen Ebenen auf gesellschaftliche Institutionen.

Die abschließende Podiumsdiskussion wurde von Iris Wieczorek (DFG) moderiert. Die Gruppe setzte sich zusammen aus Karen Shire (Universität Duisburg-Essen), Frank Rövekamp (Fachhochschule Ludwigshafen), Wolfram Manzenreiter (Universität Wien), Flemming Christiansen (University of Leeds) und Jane Bachnik (Sophia University). Bereits bei der Beantwortung der ersten Frage, ob Risiko von Gesellschaft zu Gesellschaft wandert, waren sich alle Redner einig. Ein Nationen übergreifender Risikobegriff ist aufgrund des globalen Charakters vieler Risiken notwendig. Eine Analyse über nationale Grenzen hinaus unabdingbar. Auch eine Analyse der Rolle von Institutionen verlangt diese offene Perspektive und benötigt eine Wissenschaft, die diesem Anspruch folgt. Der Schritt, über nationale und disziplinäre Grenzen hinweg, der mit dieser Jahrestagung getan wurde, wurde von allen Beteiligten als sehr positiv bewertet.

David Georgi (Universität Duisburg-Essen)