Jahrestagung 2005
Die von Evelyn Schulz (Universität München) und Christoph Brumann (Universität zu Köln) organisierte Jahrestagung Stadt-Räume in Japan: Die sozialwissenschaftliche Japanforschung und der „Spatial Turn“ / Urban Spaces in Japan: The Social Scientific Study of Japan and the „Spatial Turn“ (18. – 20. November 2005) nahm den seit einiger Zeit in den Geistes- und Sozialwissenschaften aktuellen Diskurs des spatial turn zum Anlass, um die wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen japanischer Stadträume, sowohl ihre heutigen Formen als auch ihre historische Genese, im Hinblick auf ihre Relevanz für das Verständnis des modernen Japan zu befragen. Spatial turn bedeutet zunächst – in Anlehnung an Simmel und Foucault, de Certeau und Soja – , dass Räume nicht als selbstverständlich gegeben angesehen werden, sondern vielmehr sozial konstituiert sind. Räume sind demnach stets auch ein Beziehungsgefüge, dessen Grenzen in der sozialen und kulturellen Praxis ständig neu verhandelt werden.
Angesichts des bevorstehenden bzw. mancherorts bereits eingetretenen Wendepunktes in der Genese japanischer Städte aufgrund von Faktoren wie des demographischen Wandels, der Globalisierung etc. war es Ziel der Tagung, statt wie bisher Urbanisierung die japanische Urbanität stärker in den Blick zu nehmen und zu fragen, was die zukünftige Entwicklung bringen wird. Gibt es eine spezifisch japanische Urbanität und was tragen Stadtplanung, Wirtschaft, Politik, Recht oder Medien zu ihr bei? Sind neben den bekannten Problemen, die weiterhin ihrer Lösung harren, die Leistungen japanischer Städte bereits hinreichend gewürdigt worden? Ist eine Konvergenz mit den urbanen Mustern anderer Industriegesellschaften zu beobachten? Und welchen Sinn haben Dichotomien wie „Stadt“ und „Land“ überhaupt noch im Zeitalter der Globalisierung und des entgrenzten Raumes?
Mit fünf thematischen Sektionen wurde ein umfangreiches Programm aufgelegt.
Die erste Sektion, „Planning, Citizen Participation and Structural Constraints“widmete sich den historischen Wurzeln der Stadtplanung und arbeitete sich zum heutigen Verhältnis zwischen Stadtgestaltung und Bürgerbeteiligung und ihren rechtlich-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vor. Die Geografin Carolin Funck (Hiroshima University) befasste sich in einer vergleichenden Studie Deutschland – Japan mit der Frage, wie sich der globale Trend zur partizipativen Stadtplanung in diesen beiden Industrieländern äußert. Besonderes Augenmerk galt den Möglichkeiten für Bürgerinitiativen, sich an der Gestaltung des öffentlichen Raums zu beteiligen. Anhand von Fallstudien zeigte Funck auf, dass sowohl in Deutschland als auch in Japan Bürgerinitiativen und ähnlichen Organisationen zwar die Möglichkeit einer Beteiligung eingeräumt wird, nicht aber die Entscheidungsgewalt. Die Ökonomen Hōji Senta (Development Bank of Japan, Okayama) und Franz Waldenberger (Universität München) problematisierten das Abhängigkeitsverhältnis zwischen der in Tōkyō ansässigen Zentralregierung und den lokalen Regierungen in den Regionen im Hinblick auf Fragen der Planungshoheit und der Umverteilung von Etats. Während Hōji aus einer vergleichenden Perspektive (Deutschland – Japan) einzelne Projekte zu Strukturreformen vorstellte, analysierte Waldenberger anstehende Reformen im Hinblick darauf, welchen tatsächlichen Beitrag sie zur notwendigen Dezentralisierung beitragen könnten. Die Japanologin Anke Scherer (Universität Bochum) analysierte Elemente der Kolonialarchitektur Japans anhand zahlreicher Fallbeispiele aus Taibei, Seoul und Xinjing. Besonderes Augenmerk galt der Frage, inwieweit japanische Architekten, die mit Projekten auf Taiwan, in China und Korea historisches Neuland betraten, einerseits auf etablierte Bauformen zurückgriffen, um koloniale Machtansprüche zu demonstrieren, und andererseits das dortige Repräsentationsvakuum benutzten, um bis dato in Japan unbekannte Architekturformen zu entwickeln. Die Japanologin Katja Schmidtpott (Universität Bochum) diskutierte anhand der Gründung zahlreicher Nachbarschaftsvereinigungen in Tōkyō in den 1920er und 1930er Jahren die Frage, inwieweit die Bewohner damals tatsächlich in solche Vereinigungen integriert waren. Durch ihre Analyse zahlreicher Tagebücher, zeitgenössischer Interviews, Untersuchungen der Stadtverwaltungen und Reportagen kam sie zu dem Ergebnis, dass die Vorstellung von einer engen Einbindung der damaligen Bewohner in dorfähnliche Strukturen eine Fiktion ist.
Mit den nächsten Sektionen, „Tōkyō in Transformation“ und „Kyōto in Transformation“, wurden exemplarisch zwei japanische Metropolen herausgegriffen, die global city Tōkyō und die historische Kaiserstadt Kyōto. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit ist den beiden Städten gemeinsam, dass sie sich in tiefgreifenden und vieldiskutierten Transformationsprozessen befinden. Der Ethnologe Theodore Bestor (Harvard University) ließ in einer Tour de force die Geschichte und Gegenwart der Hauptstadt Revue passieren. Er lehnte sich dabei einerseits an seine Feldforschungen zur nachbarschaftlichen Selbstorganisation in einem Anfang des Jahrhunderts gegründeten Stadtviertel und zum Tōkyōter Fischmarkt an, stellte andererseits aber auch Überlegungen zur neuartigen Urbanität des Roppongi Hills-Komplexes an. Der Geograph Ralph Lützeler (Universität Bonn und Duisburg-Essen) nahm die von der Soziologin Saskia Sassen formulierte These zum Ausgangspunkt, dass die Entwicklung einer Stadt zur Global City mit einer sozialen Polarisierung des urbanen Raums verbunden sei. Am Beispiel der sozialen Segregation von Einwanderern und Arbeitslosen in Tōkyō zeigte Lützeler eine differenzierte Sicht dieses Sachverhaltes auf. Beispielsweise wies er nach, dass die in Japan im internationalen Vergleich geringen Einkommensunterschiede eher auf die niedrige Einwandererquote als auf eine soziale Gleichheit der japanischen Bevölkerung zurückzuführen sei. Darüber hinaus machte er deutlich, dass ungeachtet einer gegenwärtigen Homogenisierung auf der Makroebene aufgrund von Reformen wie beispielsweise der Revitalisierung des Stadtzentrums von Tōkyō zukünftig mit Differenzierungen auf der Mikroebene zu rechnen sein wird. Der Geograph Paul Waley (University of Leeds) beleuchtete in seinem Vortrag „Re-locating the city: Tōkyō between Shanghai and Paris“ zeitgenössische Theorien zur Metropolenforschung, insbesondere die global city-These, im Hinblick darauf, inwieweit sie auf japanische Sachverhalte übertragbar sind. Anhand von Beispielen aus der vergleichenden Stadtforschung (China, Japan, Korea) betont Waley, dass Theorien zur Stadtforschung, die bis heute häufig auf den von Marx, Weber, Simmel und der Chicago School formulierten „Eurocentric grand narratives“ basieren, sorgfältig kontextualisiert werden müssen; das Augenmerk sollte auf stärker Differenz und weniger auf Konvergenz liegen.
Der Stadtplaner und Denkmalschützer Muneta Yoshifumi (Kyōto Prefectural University) bot in seinem Vortrag „À la recherche du Japon perdu: The conceptual evolution of the ‚historic city’ Kyōto“ zunächst einen Gesamtüberblick über denkmalgeschützte Bauten in Kyōto und die Geschichte des Denkmalschutzes in Japan. Muneta betonte die Unterschiede zwischen „gewöhnlichen“ und institutionell anerkannten Kulturdenkmälern. Letztere wurden häufig im höfischen Umfeld lokalisiert und ab der Meiji-Zeit mit dem Ziel einer Nationalisierung in den Status eines Kulturdenkmals erhoben. Dazu zählen etwa der Heian-Schein und der Kaiserpalast, aber auch Feste wie das Aoi matsuri und das Jidai matsuri. Als ein wichtiges Beispiel populärer Denkmalschutzpraxis stellte Muneta die gegenwärtige Neuwürdigung historischer Stadthäuser (machiya) vor. Diese werden durch sehr unterschiedliche Baumaßnahmen erhalten, die auch von Seiten der Stadtplanung unterstützt werden. Der Ethnologe Christoph Brumann (Universität Köln) befasste sich in „Dividing the city: High-rises and conflict in central Kyōto“ mit dem zwar umstrittenen, aber bislang ungebremsten Vormarsch von Wohnhochhäusern und versucht, die rechtlichen und sozialen Voraussetzungen und Dilemmata der sich entspinnenden Auseinandersetzungen zu ermitteln. Zwar bedienen sich manche der Baufirmen rüder Praktiken, doch liegt die Wurzel der Probleme eher in der stillschweigenden Übereinkunft darüber, dass Grund und Gebäude Privateigentum sind, mit deren Regulierung sich die Öffentlichkeit zurückhalten sollte. Nicolas Fiévé (Centre National de Recherche Scientifique, Paris) konnte wegen einer Erkrankung seinen Vortrag zum Thema „The urban landscape preservation in the historical city of Kyôto“ leider nicht halten.
Die vierte Sektion, „Urban Life and Cultural Innovation in Public Space“, war Fallstudien zum städtischen Leben und der Nutzung des öffentlichen Raums gewidmet. Der Japanologe Roland Domenig (Universität Wien) konstatierte in „The role of cinemas for urban development and identity“ einen spatial turn im Bereich der cinema und film studies. Er betonte die Bedeutung des Kinos als konkreten Raum, in dem die fiktionale Welt des Films der realen Welt des Zuschauers begegnet. Anhand zweier Beispiele, dem Asakusa-Stummfilmkino und dem Kino Shinjuku bunka, verdeutlichte Domenig die Rolle von Kinos für die Entwicklung bestimmter Stadtgebiete und die Prägung spezifischer Stadtteilkulturen. So trug das Shinjuku Bunka in den sechziger und siebziger Jahren zur Etablierung einer Alternativkultur bei. Ingrid Getreuer-Kargl (Universität Wien) ging in „Gendered modes of appropriating public space“ von feministisch inspirierten Betrachtungsweisen von Raum aus (insbesondere Martina Löws Raumsoziologie (2001) und untersuchte anhand von im Zuge eines Feldforschungsaufenthaltes gesammelte Photographien, Videoaufnahmen und Interviews in Tōkyō männliche und weibliche Strategien, die Stadt in Besitz zu nehmen. Dabei konzentrierte sie sich u.a. auf geschlechtsspezifische Gehweisen und Körperhaltungen in öffentlichen Räumen wie beispielsweise Bahnhöfen.
Die fünfte Sektion „Japanese Urban Space – Broadening the View“ galt allgemeineren, den sozialtheoretischen Bezug suchenden Überlegungen zum Wesen und zur Zukunft der japanischen Stadt. Der Stadtgeograf Winfried Flüchter (Universität Duisburg-Essen) zeichnete in „The concept of the city, the city system and city development of Japan throughout the changing times“ die Geschichte der Urbanisierung Japans von den Anfängen bis zur Gegenwart nach. Sein Augenmerk galt dabei zum einen der Herausbildung gut organisierter Stadtstrukturen, die, obgleich sie eine wichtige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg Japans darstellen, regelmäßig vernachlässigt worden ist. Zum anderen lenkte er den Blick auf die Zukunft japanischer Städte, insbesondere den bereits sich abzeichnenden Schrumpfungsprozess. Der Stadtgeograf André Sorensen (University of Toronto) griff in „Space, place and great cities in Japan“ die Frage auf, welche Faktoren zukünftig für die Stadtplanung in Japan bestimmend sein könnten. Beispielsweise dominierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Zuversicht, große Städte seien planbar, effizient, gesund, schön und lebenswert. In den zurückliegenden Dekaden wurden, vor allem in der anglo-amerikanischen Urbanistik, neue normative Stadtbegriffe entwickelt, wie beispielsweise „world city“, „creative city“, „sustainable city“ etc. Insgesamt lässt sich für Japan feststellen, dass die dortige Stadtentwicklung lange Zeit durch einen Vorrang des Ökonomischen geprägt war. Mittlerweile haben sich differenzierte Stadtentwicklungsstrategien etabliert, wobei die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs und der Überalterung von großen regionalen Unterschieden gekennzeichnet sein werden. Vor diesem Hintergrund ist zu prognostizieren, dass die Steigerung an urbaner Lebensqualität als städtisches Leitbild an Bedeutung gewinnen wird. Die Japanologin Evelyn Schulz (Universität München) befasste sich in „Walking the city: Configurations of the urban spectator in writings on Tōkyō“ mit der Frage, inwieweit die Figur des flâneurs als Archetyp des Städters und Zeitzeugen von Modernität auf Japan übertragen werden kann. In den vergangenen Jahren wurden zahllose essayartige Anleitungen zum Flanieren in Tōkyō und anderen Städten veröffentlicht. Auffällig ist, dass häufig zum einen eine nostalgische Rückblicksperspektive eingenommen wird, und zum anderen hauptsächlich kleinere Stadträume wie beispielsweise Hintergassen (roji) und deren spezifische Wohn- und Lebensverhältnisse in den Blick genommen werden. In vielen Fällen sind solche Texte im Stil einer „Auto-Topographie“ verfasst, d.h. der Verlauf des eigenen Lebens wird zur Geschichte der Stadt in Beziehung gesetzt. In den vergangenen Jahren werden nicht nur in Tōkyō, sondern auch in Shanghai und Bejing ähnlich konnotierte Alternativräume zu den globalisierten Zonen in Form von Spaziergängen entdeckt. Im abschließenden Vortrag „The future of the Japanese city: Aspects of urbanity and sustainability“ unterzog der Stadthistoriker Shirahata Yōzaburō (International Research Center for Japanese Studies, Kyōto) die bisherige Stadtplanungspolitik Japans einer Kritik und zeigte neue Visionen für die Zukunft des urbanen Raums auf. Aus seiner Sicht ist in Japan das Verhältnis von Stadt und Natur einer grundlegenden Erneuerung zu unterziehen. Während man in Japan im vergangenen Jahrhundert beispielsweise die Natur aus den Städten verdrängte, bewunderten die Europäer bei ihrer Ankunft in Japan die Präsenz der Natur in den Städten. Mittlerweile wurden Projekte durchgeführt, die ein ökologisches Umdenken einleiteten und zu einer Abkehr von der Strategie, Flussbetten und -ufer zuzubetonieren, führten. Shirahata fordert dazu auf, sich in Japan auf die Wurzeln des Stadtbegriffs zurückzubesinnen und sich weniger an dem Begriff toshi zu orientieren, der aus den Lexemen to 都 (Hauptstadt) und shi 市 (Markt) besteht, sondern an tokai („Stadt“ und kai 会 (Treffen, (Ver-)Sammeln).
An die inhaltlich dichten und viele wechselseitige Bezüge aufweisenden Vorträge schlossen sich engagierte Diskussionen der fast 100 Teilnehmer an, die sicherlich auch dauerhaft dem Thema Stadträume gegenüber neues Interesse geweckt haben. Das Adam-Stegerwald-Haus in Königswinter bot dafür und für die nicht weniger lebhaften informellen Gespräche einen kongenialen Rahmen. Eine Buchpublikation der Beiträge ist vorgesehen.
Die Tagung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Münchener Universitätsgesellschaft (MUG) gefördert.
Evelyn Schulz (Universität München) und Christoph Brumann (Universität zu Köln)