Fachgruppentreffen Soziologie und Sozialanthropologie 2023

 

Organizers:

Carola Hommerich (Sophia University, Tokyo)

Nora Kottmann (German Institute for Japanese Studies, Tokyo)

Celia Spoden (German Institute for Japanese Studies, Tokyo)

 

Abstracts

Wohlbefinden älterer Frauen im ruralen Japan: Eine Fallstudie in Sakurajima

Lenka Miyanohara (Universität Wien)

Das Ziel dieser Masterarbeit ist das Wohlbefinden der Frauen über das Alter von 60 Jahren, die im ländlichen Japan leben, zu untersuchen. Zu diesem Ziel wird die folgende Forschungsfrage gestellt: „Was trägt zu dem aktuellen Wohlbefinden der Frauen im ruralen Japan bei?“ In der Forschungsfrage sind drei Aspekte ersichtlich: Wohlbefinden, Frauen und rurales Japan. Daher wird auch im Forschungsstand versucht, diese näher zu untersuchen. Untersucht wurde, wie sich die Frauen ihren jetzigen Zustand erklären, welche Zusammenhänge tragen zu ihrem täglichen Wohlbefinden bei und welche Rolle die Umgebung auf ihr Wohlbefinden spielt. Die Frage und auch der Charakter der Arbeit sind explorativ, weshalb auf Hypothesen im Vorhinein verzichtet wird. Um die Frage beantworten zu können, wurde im September 2022 Feldforschung in Sakurajima, in der Präfektur Kagoshima in Kyūshū durchgeführt. Im Zuge der Feldforschung wurden 15 qualitative Interviews mithilfe eines „Brettspiels“ mit Tokens durchgeführt. Die semi- strukturierte Interviews wurden durch Struktur-Lege-Technik mit 29 festgelegten Tokens und mit einem Token mit „ich“-Bezeichnung geführt. Am Ende dieser Interviews beantworteten die Befragten anonyme quantitative Fragebögen mit drei Fragen, die auf das Wohlbefinden und die Bedeutung des Wohlbefindens der Befragten hinweisen. Diese Arbeit hat das Ziel, die qualitative Forschung zum Wohlbefinden in Japan zu erweitern und zu der Glücksforschung mit der innovativen Herangehensweise entwickelt von Wolfram Manzenreiter und Barbara Holthus beizutragen.

 

 

(Im)mobilität die bewegt: Ein ethnografischer Einblick in die Arbeitswelten japanischer Kunstmodelle

Anna-Maria Stabentheiner (Universität Wien)

Lebende Modelle spielen schon lange eine nicht vernachlässigbare Rolle in der Kunst. Gekennzeichnet durch körperliche Immobilität übernehmen Kunstmodelle (Aktmodelle) die Rolle der Referenz und der Inspiration in vielen kreativen Prozessen. Nichtsdestotrotz befasst sich bis heute nur ein kleiner Korpus an anthropologischer Literatur ausführlich mit der Rolle, den Praktiken und Lebensgeschichten dieser Individuen. Besonders außerhalb des anglo-europäischen Raums blieb das Thema bisher weitgehend unerforscht. Die Arbeitswelten Tokioter Kunstmodelle standen im Zentrum eines mehrmonatigen Forschungsprojektes, das zwischen November 2021 und Oktober 2022 stattfand. Gespeist durch qualitative Methoden – Online-Umfragen, Interviews, informelle Gespräche, teilnehmende Beobachtung (und beobachtende Teilnahme) – und bedacht auf reflektierte und ethische Forschungspraxis, beleuchtet dieses Projekt die komplexe und grundlegend kooperative Natur kreativer Prozesse. Der erhobene Datenpool gewährt einen Überblick über die institutionellen und sozialen Infrastrukturen, die die Arbeitspraktiken von Kunstmodellen in Tokio unterstützen. Des Weiteren wurde klar, dass die Interaktionen zwischen Modellen und Künstlern keineswegs ‚frei‘ sondern weitreichend ritualisiert und tiefgehend strukturiert sind. Schließlich wurde Aufschluss darüber erlangt, dass Kunstmodelle eine weitreichende kreative und transformative Rolle in Tokios Kunstwelt spielen. Die Fallstudie Tokioter Kunstmodelle zeigt damit den Einfluss und das kreative Potential gewöhnlich nicht als ‚kreativ‘ betrachteter – immobiler – Akteure in der Kunst und betont die zentrale Bedeutung der Kooperation in kreativen Prozessen.

 

 

Mobilität und Aufstiegschancen für autistische Angestellte in Japan (online)

Rafael Schäfer (Universität Heidelberg)

In meinem Vortrag bespreche ich die Möglichkeiten, die Autist*innen in Japan zur Verfügung stehen, um auf dem Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden. Ich gehe darauf ein, welche Strategien sie anwenden, um Arbeit zu finden, deren Gehalt und Bedingungen sie akzeptabel finden und mit welchen Mitteln sie ihre Rolle als behinderte Person in der japanischen Gesellschaft gegenüber Arbeitgebern und Mitarbeitern verhandeln. Ausgehend von der Perspektive autistischer Angestellter beleuchte ich systemische Reibungspunkte, die zwischen Arbeitgeber*innen und den Bedürfnissen der Arbeitnehmer*innen entstehen.

Viele japanische Autist*innen, die bereits in den Arbeitsmarkt eingetreten sind, haben erst ihre Autismusdiagnose verfolgt, nachdem sie bereits Arbeitserfahrungen gesammelt hatten. Als Konsequenz machten sie häufig Erfahrungen mit Konflikten am Arbeitsplatz, welche unter anderem dazu führten, dass sie ihre Anstellung ein- oder mehrmals wechseln mussten. Selbst für Angestellte in der Karrierebahn (career track) ist ein Aufstieg innerhalb der Firma selten möglich. Haben sie ihre Autismusdiagnose ihrem Arbeitsgeber mitgeteilt, haben sie zwar Rechtsanspruch auf Unterstützungsmaßnahmen (reasonable accommodations), tatsächlich bedeutet es aber für viele Angestellte, dass sie auf weitere Karrierechancen verzichten müssen. Bei vielen ist zudem die Sorge groß, dass eine Preisgabe des Behindertenstatus entweder ein Sinken des Gehaltes sowie eine Veränderung des Aufgabenbereiches, oder sogar die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bedeuten würde. Aus diesem Grund wählen viele Autist*innen alternative Beschäftigungsverhältnisse, entweder indem sie ihre Diagnose vor dem*der Arbeitgeber*in geheim halten, oder indem sie auf eine Anstellung in einer Firma mit Behindertenabteilung verzichten.

Für meine Dissertation habe ich die Situation japanischer Autist*innen auf dem japanischen Arbeitsmarkt untersucht. Im Rahmen dieses Themas habe ich gezielt Selbsthilfegruppen im Großraum Tokyo aufgesucht, um Feldforschung unter den Betroffenen selbst durchzuführen und somit ein differenziertes Bild davon zu erhalten, was es für autistische Japaner*innen bedeutet, ihren Autismus mit ihrer Rolle als Angestellte zu vereinen. Schwerpunkt dabei waren die unterschiedlichen Auswahlmöglichkeiten und Handlungsspielräume, die ihnen offiziell und inoffiziell zu Verfügung standen. Die Dissertation wurde im März 2023 eingereicht und wartet noch auf die Verteidigung.

 

 

Auswirkungen transnationaler Erfahrungen auf Arbeitsmarktergebnisse in Japan:  Ergebnisse der SSJDA-Panelstudie (2021–23)

Steve R. Entrich, Universität Innsbruck / The University of Tokyo / Universität Duisburg-Essen (ab November)

Sho Fujihara, The University of Tokyo

Im Zuge der internationalen Bildungsexpansion verschärfte sich in vielen hochindustrialisierten Gesellschaften der Wettbewerb unter hochqualifizierten Personen um relativ knapper werdende attraktive Positionen auf dem globalisierten Arbeitsmarkt. Heutzutage investieren Familien mit hohem sozioökonomischen Status (SES) nicht nur in das Erreichen eines hohen Bildungsniveaus (z. B. einen Universitätsabschluss), um den Statusvorteil ihrer Kinder aufrechtzuerhalten, sondern konzentrieren ihre Bemühungen auch zunehmend auf horizontale Unterschiede im Bildungsniveau, d.h. Universitäten oder Programme die höhere Renditen versprechen. In dieser Hinsicht bietet die schrittweise Transformation und Institutionalisierung von „transnationalem Humankapital“ als wertvolles Kulturkapital wohlhabenden Familien die Möglichkeit, zusätzliche statusgebende Investitionen zu tätigen.

Die bisherige Forschung impliziert, dass ein Auslandsstudium die effizienteste Möglichkeit darstellt, transnationales Humankapital zu erwerben und die Karriereaussichten des Einzelnen zu verbessern. Tatsächlich deuten frühere Untersuchungen auf positive Auswirkungen der Teilnahme an einem Auslandsstudium auf Arbeitsmarktergebnisse wie Einkommen und Beschäftigung in den meisten Gesellschaften, einschließlich Japan, hin. Obwohl politische Entscheidungsträger in Japan im internationalen Vergleich relativ spät begannen, die internationale Mobilität japanischer Studierender zu fördern, gipfelte die Anerkennung des Wertes globaler Humanressourcen für die Wiederbelebung der japanischen Wirtschaft in mehreren großen Internationalisierungsprogrammen und der Förderung internationaler Studierendenmobilität. Rückblickend erwies sich diese Revitalisierungsstrategie als äußerst erfolgreich: Die Zahl der Studierenden, die einen Universitätsabschluss im Ausland verfolgen (degree mobility), blieb in etwa auf ähnlichem Niveau und die Zahl der Studierenden, die einen Teil ihres Studiums im Ausland verbrachten (credit mobility), hat sich zwischen 2008 (24.508) und 2019 (107.346) mehr als vervierfacht.

Befunde internationaler Untersuchungen verweisen jedoch auf sozioökonomische und geschlechtsspezifische Selektivität in der Teilnahme an Studienaufenthalten im Ausland, was darauf hindeutet, dass die potenziellen Vorteile von SA in erster Linie von Studentinnen aus benachteiligten Schichten genutzt werden. Allerdings bleibt bisher noch völlig unklar,  welche Studierenden (mehr) von den potenziellen Vorteilen eines Auslandsstudiums in Japan profitieren.

Um diese Forschungslücke zu schließen, untersuchen wir die heterogenen Auswirkungen transnationaler Bildung auf die Arbeitsmarktergebnisse japanischer Absolventen anhand aktueller Daten aus der SSJDA-Panelstudie (2021–2023). Es wird davon ausgegangen, dass die erneuten, postpandemischen  Anstrengungen die Internationalisierung der japanischen Bildung voranzutreiben, die internationale Studierendenmobilität japanischer Studierender deutlich steigern wird. Politische Akteure erwarten sich von erneuten Bemühungen die Hochschulbildung des Landes nach der Aufhebung der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie zu internationalisieren, dass die Beteiligung an der internationalen Studierendenmobilität wieder deutlich steigen wird, ggf. über das vorpandemische Maß hinaus. Auch aus diesem Grunde werden empirische Befunde über die tatsächlichen Ergebnisse politischer Interventionen wie des „Top Global University Project“ für individuelle Lebensverläufe an zunehmender Bedeutung.

 

 

Tiermissbrauch in Japan

Barbara Holthus (DIJ Tokyo)

Beirne und Lynch (2023) haben die Entwicklung eines globalen vergleichenden Forschungsprogramms gefordert, das die Dynamik der polizeilichen Überwachung von Tierquälerei und -missbrauch untersucht. Als Antwort darauf fokussiert sich diese Präsentation auf die Fallstudie Japan. Im Zeitraum von 2007 bis 2023 verzeichnete Japan einen bemerkenswerten Anstieg der gemeldeten Fälle von Tiermissbrauch. 166 Verhaftungen wegen Tiermissbrauchs wurden laut Statistiken des Umweltministeriums und der nationalen Polizei im Jahr 2022 vorgenommen. Diese Fälle umfassen ein breites Spektrum, das von der körperlichen Verletzung und Tötung von Tieren bis hin zu schwerer Vernachlässigung reicht, die häufig mit Fällen von animal hoarding zusammenhängt. Die Bewältigung der mit diesen Fällen verbundenen rechtlichen Fragen erweist sich als eine große Herausforderung. Die kürzlich erfolgte Gründung einer Vereinigung von Anwälten, die sich der Bekämpfung von Tiermissbrauch widmet und von Tierschützergruppen unterstützt wird, soll Tieren im Recht mehr Gehör verschaffen und die Möglichkeiten der Strafverfolgung von Tätern ausweiten. Es ist wichtig zu erkennen, dass Tiermissbrauch und häusliche Gewalt eng miteinander verknüpft sind. Medienberichte haben in jüngster Zeit auch einen Anstieg der Fälle von Kindesmissbrauch festgestellt, was die Dringlichkeit dieser Analyse unterstreicht. Tierquälerei und häusliche Gewalt sind schwerwiegende soziale Probleme, die immenses Leid verursachen und oft gemeinsame Ursachen haben. Auf der Grundlage des theoretischen Rahmens der green criminology bietet dieses Papier eine umfassende Untersuchung der verschiedenen Verbrechen, des sozio-demografischen Hintergrunds der Täter sowie eine Analyse der zahlreichen Akteure, die sich mit den rechtlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit Tiermissbrauch befassen.

 

 

Eine Revolution des Bewusstseins? Einstellungswandel zu Umweltproblemen und Klimawandel in Japan und Deutschland

Carola Hommerich (Sophia University) & Joanna Kitsnik (Sophia University)

Die Klimakrise verdeutlich, dass ein grundlegender Wandel weg von der wachstumsabhängigen kapitalistischen Ideologie hin zu alternativen gesellschaftlichen Visionen, die das soziale und ökologische Wohlergehen in den Vordergrund stellen, für das Überleben der Menschheit entscheidend ist. Eine solche «Metamorphose der Welt» (Beck 2016) scheint jedoch nicht wahrscheinlich zu sein, zumindest nicht in naher Zukunft. Die Notwendigkeit grundlegender Veränderung unterstreicht die Bedeutung des aktiven Einforderns systemischen Wandels von Seiten der Bürger. Eine «Bewusstseinsrevolution» (Alexander 2015) auf individueller Ebene ist notwendig, um signifikanten Wandel zu erreichen. In diesem Vortrag wird untersucht, ob und wie sich Einstellungen zu Umweltproblemen und Klimawandel in den letzten drei Jahrzehnten verändert haben, während die Bedrohung durch die Klimakrise immer unmittelbarer und greifbarer geworden ist. Wir vergleichen Japan und Deutschland, zwei Länder mit vergleichbarem wirtschaftlichen Entwicklungsstand und politischer Macht in ihren jeweiligen geografischen Regionen – der Europäischen Union und Ostasien. Im Bereich des Klimawandels zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede: Deutschland liegt auf Platz 16 und Japan auf Platz 50 des Climate Change Performance Index (CCPI 2023).

Anhand von Daten aus dem Umweltmodul des International Social Survey Programme (ISSP) für Japan und Deutschland aus den Jahren 1993, 2000, 2010 und 2020 untersuchen wir die wichtigsten Trends im Umweltbewusstsein. In unserer explorativen Analyse konzentrieren wir uns auf Generationsunterschiede in den beiden Ländern und untersuchen Veränderungen in der allgemeinen Bedeutung von Umweltthemen, Meinungen über die Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltauswirkungen, umweltfreundliches Verhalten und die Bereitschaft, Opfer zu bringen, wie z. B. höhere Preise zu zahlen, höhere Steuern zu akzeptieren oder den eigenen Lebensstandard zu senken, um die Umwelt zu schützen. Darüber hinaus bewerten wir den Glauben der Befragten an grüne Technologien als Lösung für die Klimakrise und untersuchen einen möglichen Rückgang des «Techno-Optimismus».

Unsere Analysen zeigen, dass die Sorge um die Umwelt und die Angst vor den Auswirkungen des Klimawandels in beiden Ländern insgesamt zugenommen haben. In Japan ist diese Besorgnis in den älteren Altersgruppen stärker ausgeprägt, während sich in Deutschland die Erkenntnis, dass der Klimawandel von zentraler Bedeutung ist, über alle Altersgruppen erstreckt und die japanische übertrifft. Eine erhebliche Diskrepanz ergibt sich bei der Bereitschaft der jüngeren Altersgruppen, persönliche Opfer für die Umwelt zu bringen. In Japan zeigen insbesondere die jüngeren Altersgruppen eine geringere Bereitschaft Abstriche beim eigenen Lebenswandel zu machen, während in Deutschland der umgekehrte Trend zu beobachten ist. Darüber hinaus räumen japanische Personen aller Altersgruppen individuellen Umweltmaßnahmen eine geringere Priorität ein und sehen weniger persönliche Verantwortung für den Umweltschutz als ihre deutschen Altersgenossen. Interessant ist, dass die älteren Altersgruppen in beiden Ländern zwar dem Wirtschaftswachstum Vorrang vor Umweltschutzmaßnahmen einräumen, aber zunehmend erkennen, dass das Wirtschaftswachstum auf Kosten der Umweltzerstörung geht.

Die zunehmende Priorisierung des individuellen Komforts gegenüber Umweltbelangen in Japan gibt Anlass zur Sorge, während die Trends in Deutschland auf ein stärkeres Gefühl der kollektiven Verantwortung und die Bereitschaft zu persönlichen Opfern für die Umwelt hindeuten.