VSJF-Preis 2015
Nora Kottmann
„Jenseits der Kernfamilie – Familie(nlosigkeit) und Familienkonzepte am Beispiel des Herrn A aus Tokyo“, In: Kottmann, Nora, et al. (Hrsg.): Familie – Jugend – Generation: Medienkulturwissenschaftliche und japanwissenschaftliche Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 67-82, –> Zur Buchvorstellung beim Springer Verlag, Wiesbaden
Laudatio
In diesem Jahr lagen der Jury zur Verleihung des VSJF-Preises für den besten sozialwissenschaftlichen Aufsatz in deutscher Sprache sechs Manuskripte zur Begutachtung vor. Preisfähig sind Werke von AutorInnen, deren Promotion zum Publikationszeitpunkt noch nicht länger als 6 Jahre zurücklag bzw. noch nicht erfolgt ist.
Nach ausführlicher Diskussion der eingereichten Beiträge entschied die Jury, den Preis an Frau Nora Kottmann (Heinrich-Heine Universität Düsseldorf) für ihren Aufsatz „Jenseits der Kernfamilie – Familie(nlosigkeit) und Familienkonzepte am Beispiel des Herrn A aus Tokyo“ zu vergeben.
Der Beitrag von Nora Kottmann erscheint der Jury aus verschiedenen Gründen preiswürdig:
1. Innovative Perspektiven zu einem zentralen Thema der sozialwissenschaftlichen Japanforschung
Die Herausschiebung des Heiratsalters bei jungen Japanerinnen und Japanern bzw. deren Entscheidung, nicht zu heiraten, wird in der Forschungsliteratur maßgeblich für den Rückgang der Geburtenrate und daher für den demographischen Wandel in Japan verantwortlich gemacht. Der Großteil der Publikationen in diesem Bereich untersucht dieses Phänomen im Kontext der sich wandelnden gesellschaftlichen Rolle von Frauen, die aufgrund einer verbesserten Ausbildung erst später eine Ehe eingehen oder sich – auch weil Familie und Beruf in Japan nach wie vor schwer zu vereinbaren sind – für eine berufliche Karriere und gegen eine Familiengründung entscheiden. Männer dagegen rücken in diesem Kontext erst seit jüngerer Zeit in den Fokus und werden oftmals als „Opfer“ dargestellt: einerseits als Leidtragende des geänderten Heiratsverhaltens von Frauen, andererseits als weniger attraktive Heiratspartner (aufgrund der steigenden Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt und der hohen Zahl prekär Beschäftigter). Der Beitrag von Kottmann setzt hier an, indem er das Bild von den eher passiven Männern in Frage stellt und die Erkenntnis vermittelt, dass Männer sich ebenfalls bewusst und kritisch mit der männlichen Idealbiographie auseinandersetzen und nach Alternativen suchen.
2. Überzeugende, aufschlussreiche Empirie auf der Basis eines theoretisch fundierten Außenseiter-Samples
Sehr innovativ gelingt es der Autorin auf der Grundlage eines umfassenden, teilstrukturierten biographischen Interviews mit Herrn A, einerseits einen spannenden Einzelfall darzulegen und zu analysieren, diesen aber gleichzeitig an die in der Forschungsliteratur entwickelten Thesen zur Familie und zum Heiratsverhalten jüngerer Japanerinnen und Japaner rückzubinden. Die mikrosoziologische Studie zum Heiratsverhalten und den ihm zugrunde liegenden Familienkonzepten junger japanischer Männer liefert faszinierende Einblicke in eine Lebens- und Vorstellungswelt, die in der familiensoziologischen Forschung bislang noch nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Am Beispiel von Herrn A, der von außen betrachtet einen „klassischen“ japanischen Karriereverlauf aufzuweisen hat und nach einem Studium an einer renommierten Universität in Tokyo als Stamm-Mitarbeiter bei einem großen japanischen Unternehmen beschäftigt ist, sich aber bewusst dafür entschieden hat, unverheiratet zu bleiben, zeigt Kottmann überzeugend auf, dass sich in Japan (und nicht nur dort) neben den klassischen Familienmodellen auch alternative familiale Konzepte zu etablieren beginnen. Diese sind offenbar gerade für solche jungen Männer attraktiv, die den japanischen Arbeitsmarktstrukturen und der klassischen männlichen Erwerbsbiographie in Japan kritisch gegenüber stehen.
3. Bereicherung der familiensoziologischen Forschung
Das Netzwerk des Herrn A als „Familie im weiteren Sinne“ verbindet die Autorin überzeugend mit innovativen subjektorientierten Theorieansätzen. Damit eröffnet sie neue Perspektiven auf das Konzept der Familie und darüber hinaus auf aktuelle und künftige Entwicklungen, die sich vom klassischen Familienmodell bewusst abgrenzen und nach anderen, alternativen Lebensentwürfen suchen, die ähnliche Funktionen wie die Kernfamilie übernehmen können. Die Studie besticht durch die behutsame Einordnung eines Einzelfalles und die gelungene Verknüpfung von Empirie und Theorie: ein Zugewinn für die familiensoziologische Forschung.
4. Die unübliche Entstehung des Artikels als Produkt einer interdisziplinären Nachwuchsinitiative
Die Studie ist Teil eines Sammelbandes, der aus einer Kooperation von NachwuchswissenschaftlerInnen der Universität Düsseldorf aus den Bereichen „Medien-/Kulturwissenschaft“ und „sozialwissenschaftliche Japanforschung“ hervorgegangen ist. Diese interdisziplinäre Initiative entwickelte sich über ein gemeinsames Lehrprojekt für Studierende beider Fächer zum Thema „Jugend – Familie – Alter“ hin zu einem Forschungsprojekt mit größeren Workshops, Konferenzen und schließlich einer Publikation, die die komparative und globale Dimension dieser Thematik aufzeigt: Nora Kottmann, Hans Malmede, Stefanie Osawa und Katrin Ullmann (Hrsg.): Familie – Jugend – Generation. Medienkulturwissenschaftliche und japanwissenschaftliche Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS 2014 (darin der gewürdigte Beitrag S. 67-82).
November 2015
Jury: Prof. Dr. Verena Blechinger-Talcott (Berlin), Prof. Dr. Winfried Flüchter (Duisburg-Essen), Prof. Dr. Klaus Vollmer (München)